DIE NEUE KUNST UND DIE DEUTSCHEN STÄDTE Eine Rundfrage DARMSTADT Die Stadt ist als Bild unbeträchtlich, als Charakter flau, als Temperament undiskutabel, als Geist zäh, trocken und subaltern. Daß sie für Westdeutschland heute Vorort ist, Zentrale und Stoß trupp im Sinne der Bildung, ist nicht ihre Schuld, sondern ein ironischer Zufall, den das Schicksal ihr vorexerzierte. Schließlich hat Gott auch diese miserable Welt sich ausgesucht, um einige unsterb liche Denkwürdigkeiten daran zu beweisen. Warum sollte auf einem bürgerlichen Sandhaufen, wo mit gladiatorenhafter Gebärde zum Schutz des Deutschtums und der Kultur Tägliche Anzeiger und Landeszeitungen, Sanitätsräte und Advokaten Arme und Beine aufbieten, die Erschießung des Geistes nicht täglich wieder versucht werden und mißlingen. Diese Guerilla ist eine der witzigsten Beigaben eines Daseins, das sich zeitweise in jener Stadt aufhält, ein guter Chester mit Brombeeren oder ein zarter Roquefort könnten nicht besser die Digestion befördern. Auch macht es den 20 oder 30, die fast alle sehr begabt, das »Tribunal« herausgeben, die »Darmstädter Sezession« bilden, dem ersten Franzosen Paul Colin die Reise durch Deutschland für die »Clarte« ebneten, die großen Ausstellungen organisierten, einen Heidenspaß, den Treubund der Stadt verordneten und Rütli verschworenen mit den Hellebarden anrüdcen zu sehen. Man möge jedoch diese Sezessionisten nicht für Krakehler halten, ich glaube, daß sie eher nach Welt aus sind, und daß die »offiziellen« Kreise der Kunst nicht ohne Respekt ihre Verbindung suchen. Die Dichter Max Krell, Anton Schnack, Hans Schiebelhuth, Leonhard Schüler, Carlo Mierendorff, Theodor Hau buch, Wilhelm Michel sind eine gute kameradschaftliche Garde. Die Maler und Bildhauer haben Eberz, Bedcmann, Gunschmann, Engert, Habicht, Ewald, Nebel, Hensler, Dülberg, Keil, die Puppenkünstlerin Pinner. Noch vieles andere kommt hiezu. Th. Ivel hat einen guten Graphik-Verlag aufgemacht. Das »Tribunal« ist eine der eigenartigsten kleinen deutschen Zeitschriften, die unter anderem den ersten großen Zusammenschlußaufruf an die französischen Intellektuellen richtete, der, von den besten Deutschen unserer Generation unterzeichnet, einen enormen europäischen Anklang fand. Dies alles entwickelt sich aus durchaus männlichen kameradschaftlichen Bindungen. Der geschäftliche Kern ist der neunzehnjährige Drucker Pepi Würth, der auf seiner Privatpresse sehr hübsche Sachen ediert. Es gibt noch eine Literarische Gesellschaft, die unter tapferem Einsatz seiner Persönlichkeit Otto Stockhausen führte, die jetzt umsichtig E. E. Hoffmann leitet. Das Theater war ein öffentlicher Skandal, staunenerregend in seiner Hilflosigkeit, Der Wiener Eger hat es versüßt und auf niedliches Kitschniveau gebracht. Die späteren haben es noch armseliger traitiert. Jetzt hat es Gustav Hartung, an den ich als wohl stärksten Regisseur unserer Generation glaube, als Intendant in die Hand genommen, er wird es ohne Zweifel zum Platz der ersten west= deutschen Bühne führen, die Kritik ist politisch eingestellt. Von rechts her führt sie einen verzweifelten Kastratenkampf gegen die Qualität, teils gutgläubig von rührender Provinzialität befangen, teils bösartig. Als Kunstkritiker sind Wilhelm Michel, als Theaterreferent Dietrich Diestelmann, beide ausgezeichnet, leitende Pole. Die Stadt selbst bringt dem allen unpathetische Neugier entgegen. LInbedenklich im Haß auf das Ungewöhnliche und mit der Grausamkeit der Zeloten kämpft sie die Camouflage gegen ihren wichtigsten Besitz. Ich zweifle nicht, daß dies die richtige Einstellung ist. An solchen Reibungsflächen entzündet sich Produktivität. Kunst und dem Geist entgegenkommende Städte sind schöpferisch gewöhnlich steril. Hier ist tatsächlich eine Stadt ohne Ehrgeiz, ohne einen Sammler, ohne Leidenschaft, ohne Kulturmacht, ohne Mittel, eine Stadt der Beamten, Pensionäre,' kleinbürgerlicher Aristokratie, eine Stadt ohne Restaurant, eine Stadt ohne irgendeinen besonderen Reiz, hier ist ein Gnom wahrhaftig trotz allen seines Sträubens zu einer famosen Geliebten ge kommen. Ich zweifle nicht, daß er versuchen wird, sie zu maltraitieren. Aber es gibt kein Beispiel, 139 J,