10 R Hülsen beck 0 OKT°^ Bi LLIG End E Fragment Daß die Angelegenheit sehr seltsam ist, fällt einem bald auf, mag man zu dem Leben stehen wie man will'. Es ist wahrscheinlich, daß du Beamter bist, 3000 Mark verdienst, eine Frau unterhalten mußt, mit ihr in Ehren drei Kinder (zwei Mädchen und einen Kna ben) gezeugt hast und in politischer Hinsicht eine liberale Anschauung vertrittst. Es wird dir schwer, einen Augenblick den gewohn ten Trott zu unterbrechen Deine Frau droht schon mit allen Mitteln ihrer einge fetteten Seele, die Kinder schreien (Papi, Papi), der Vorgesetzte schert sich den Teu fel um deine intellektuellen Zustände — tausendmal magst du bereit sein, immer treibt die Angst dich wieder an — aber einmal, einmal kommt auch für dich, Ge liebter, die Stunde, die du mit unberechtig ter Sentimentalität deine Stunde nennen wirst: Du erkennst dies Leben und insbeson dere dein Leben, als einen wüsten Taumel, eine Brutalität ohne Ende, als einen ewi gen Kampf, sich und alles zu verschlech tern. Und du bist nicht mal erstaunt, ord nest sogleich eine Erkenntnis so wichtiger Art deinem bourgeoisen Glaubensbekennt nis ein und hast schon wieder die Geste: wo bleibt mein Kaffee — oder jetzt laßt Vater in Ruhe, er muß die Zeitung lesen. Dein Gesicht glänzt, als hätte man es mit Lack abgerieben, und deine Hosen schlot tern um deinen wohlgenährten Leichnam. Doch einmal noch, irgend wann, vielleicht, wenn du eine Flasche Piesporter oder Rauenthaler Kesselring getrunken hast, kommt dir die Erinnerung an jene Minuten, als du mehr vom 1 Leben wußtest und sozu sagen eine bebende Erkenntnis besaßt. Die Huren mit ihren hohen Beinen reizen dich plötzlich, ein weißes Haus wird ein weißes Tier, ein Pferd mit unerhörten Farben. Du fluchst, frißt und fluchst — das Leben hat dich wieder. Dem Dr. Walter Billig ging es ähnlich, aber doch ganz anders. Es gehört schon eine gewisse Intelligenz dazu, einen Ekel zu emp finden, wenn man von den Leuten mit Herr Dr. angeredet wird. Die Wirtin tut es aus Berechnung, der Bettler aus Berechnung, die offiziellen Stellen aus Dummheit und die Leute aus Gleichgültigkeit. Jemand schreit auf der Straße: „Einen Augenblick, Herr Dr. !“ Billig dreht sich um. Er ist sehr nervös. Da ruft ein Lahmer einen Buck ligen, Sie hassen das Leben und sind be reit, mit ihren Krückstöcken alle Kinder der Straße zu töten. Aber der Titel hält sie hoch und der gute Wahnsinn findet in ihm ein Hindernis. Der Titel ist ihre Wol lust und ihr Freudenhaus — er kürzt die Zeit und ersetzt die Frau. Billig, der sich durch sich selbst mit den Dingen beschäf tigt, versteht alles und rast. Er rast durch die Straßen, findet in ihnen das nächste Objekt seiner Wut, stößt gegen die elektri schen Straßenbahnen, stolpert vor den Pfer den der hochbeladenen Omnibusse, landet endlich in der dritten Klasse der Untergrund, wo er erschöpft und wütend sitzen bleibt. Durch einen reinen Zufall kommt er in seine Wohnung, wo ihn die Wirtin mit ge spreizten Beinen und hohnlachendem Ge sicht empfängt. Er gleicht dem Mann bei Poe, dort wo einer atemlos nächtelang Lon don durchkreuzt, sich mit verzerrtem' Ge sicht, fast kotzend in die idiotische Menge stürzt, mit wütenderem Gesicht hochkommt, sich der Träume erinnert, wo man gezwun gen war, mit stumpfem Arm gegen Giganten zu kämpfen, weiterrast, stolpert und brüllt. Die Wirtin, die immer Mutterstelle vertre ten will, sagt: „Hören Sie, Doktorchen — Sie könnten ein vernünftigeres Leben füh ren — teilen Sie sich Arbeit und Vergnügen richtig ein — ach nein, ein so junger Mann und so schläfrig.“ Billig hört nicht mehr. Er fühlt sich als Wäschefetischist und ist nur im Nebenberuf Syndicus der A. Y. K. Ca. Er stöberte in «dem großen Wäscheschrank, der die breiteste Wand seines Zimmers be deckt — die Materialisation unglaublichster Geister, ein weißer Wald mit seltenen Schat tenvögeln, eine Eisgrotte mit heiligen Feu ern, aus denen der Vulkan brechen kann. „Was ist die Schale ohne die Frucht?“ sagt sich der Esel — „was ist die Hülle ohne das Weib?“ „Das kann alles sein,“ antwortet der be seligte Dämmerzustand, — „das kann alles sein — insofern es die Phantasie heraus-