i/;3^<br/><br/>PrOSpekT<br/><br/>des VErlag<br/><br/>s<br/><br/>freie<br/><br/>R Hüls<br/><br/>nbeck<br/><br/>f juNg man<br/><br/>r. haus n<br/><br/><br/><br/>Herau m<br/><br/>gebeR<br/>
Blue Cyan Green Yellow Red Magenta White 3/Color Black
3
R. Hüls
OES«"«'"6
ZUR
Ein im besten Falle wahnsinniger Mo-
ment, durch das Auseinanderklaffen der Ku-
lissen die Welt in ihrer trägen opossum-
haften Breite zu sehen, Vulkane als Nüstern
einiger subtellürischer Raubtiere zu fühlen
— ei, ei, meine Liebe, ei, ei, mein lieber
Dr. Rubiner — Meer, Wind und Städte,
Städte, Weiber (Weiber, Weiber, Weiber —
so unkeusch wie möglich, so verlogen wie
möglich, so instinktiv hurenhaft wie mög-
lich) Weiber und Karneval (für die Bla-
sierten Xylophon, Bagno und Kesselpauke)
in ihrem Tanz, um sich zu begreifen. Aber
später sitzt Du Old Billy oder generöser
Don, aber später sitzt Du mit Deinen langen
Beinen auf der Terrasse des Cafe Imperial,
in dem der große Napoleon mit Herrn Pfem-
fert Karten spielte. Es ist Biaritz oder Ost-
ende, es ist San Sebastian oder Hoboken,
nur Heringsdorf darf es nicht sein. Hand-
schuhe aus einem für dich besonders ge-
färbten Ziegenleder machen dich unannah-
bar — Seelisch unannahbar, intellektuell un-
annahbar, mon dieu moralisch unannahbar.
Schon erschöpfen sich die Philosophien in
den kleinen Vor- und Anworten. Du bist
unannahbar — Kitty schickt Dir täglich um-
sonst drei Messenger Boys, der russischen
Fürstin tratst Du in die Weichen, rot-
haarigen Weibern schlug man die Fresse
entzwei. Du besinnst dich ganz auf dich
selbst, du machst die Geschichte der Zeit
wie man ein Kind macht — du erlebst den
wahnsinnigen Moment (siehe oben!) —
deine Ruhe ist hyperenglich und jenseits
aller Bewunderung.
Wir besinnen uns, daß wir immer ganz
kalt waren, selbst an dem Tage, als wir
den Primäraffekt entdeckten. Ganz kalt,
Spieler und Gegenspieler, Eis und Gegeneis,
Antipoden aus eisigster Berechnung. Diese
Feststellung läuft einem den Magen ein,
peitscht die Dicken aus den Dichtersesseln,
dreht die Gotik zu unterst und oberst. Ohne
Prinzipien zu leben wird fast unmöglich sein
— wir Sklavenhalter haben unsere Sklaven.
Aber die Prinzipien der Sentimentalität —
nbeck
ei, ei, Dr. Rubiner ei, ei, Herr Dr. Pan-
haas — nun entdeckten sie, daß die Logik
der eigenen Seele ein allzu kindliches Phan-
tasma ist. Wer sich eine Religion macht,
wird der Bonze seines Katechismus, Exeget
seiner seelischen Exkremente. Wer seiner
Logik lebt, ist ein Lügner. Wir haben unsere
Kälte, wir haben unsere Elastizität. Ihr seid
entweder westlich oder östlich orientiert,
euch hat Amerika gefressen oder die Neger
von St. Domingo — unsere Gelassenheit
bleibt immerhin bewundernswert. Deine
Religion imponiert mir nicht, Jung. Ich
habe auf der Terrasse des Cafe Im-
perial gesessen — Schuhe aus Paris,
Wäsche aus London, Geilheit aus Ber-
lin. Ich bin eine internationale Nummer.
Da schreien die Pessimisten und Men-
schenkenner: Er hat das Sakrament ver-
höhnt, er hat unseren heiligsten Augenblick
verhöhnt (wenn die Kulissen auseinander-
klaffen usw.), ihm ist die Seele Geschäft,
ihm sind die Weiber Geschäft, er hat seiner
Großmutter eine Stricknadel in den Nabel
gesteckt — dieser Hund, dieser Schuft,
dieser Sensationist und unpolitische Mensch.
Nun — in dem Augenblick gänzlicher Ver-
lassenheit und glücklichen Blödsinns —
recke ich mich auf meinen Zehen: Aber
Geschäft ist Seele, und wenn du ein Weib
kaufst, so kommunizierst Du. Schließlich
wird alles davon abhängen wie beweglich
Du bist, ob Du mit deiner letzten Senti-
mentalität soupieren gehen kannst. Alles
muß dich aber tiefer berühren, dich tumul-
tuarisch entzücken. Gedanken müßten Deine
Haut zerreißen können, deine Kinnbacken
zertrümmern können, dein Herz, wenn es
nötig wäre, zum Stillstand bringen können.
Da sitzen zum Beispiel 30 Nonnen um einen
Tisch im Esplanade und spielen Skat. Sie
sind im Hemd und freuen sich. Da ist ein
englisches Horn, welches Herr Johnson
bläst, ein Triangel, das von Weiß geschlagen
wird, und eine Guitarre, an der Herr Hal-
lensleben herumreißt. Drei Weiber haben
sich absentiert. Whiski bleibt wichtiger als
Kartenspiel. Sehen sie — da liegen sie in
der Portierloge — kein Mensch hat ihnen
-
internationaler Rhythmus<br/>
3<br/><br/>R. Hülsnbeck<br/><br/>***** cesc^Tt<br/><br/>ZUR<br/><br/>Ein im besten Falle wahnsinniger Mo-<br/>ment, durch das Auseinanderklaffen der Ku-<br/>lissen die Welt in ihrer trägen opossum-<br/>haften Breite zu sehen, Vulkane als Nüstern<br/>einiger subtellürischer Raubtiere zu fühlen<br/><br/>— ei, ei, meine Liebe, ei, ei, mein lieber<br/>Dr. Rubiner — Meer, Wind und Städte,<br/>Städte, Weiber (Weiber, Weiber, Weiber —<br/>so unkeusch wie möglich, so verlogen wie<br/>möglich, so instinktiv hurenhaft wie mög-<br/>lich) Weiber und Karneval (für die Bla-<br/>sierten Xylophon, Bagno und Kesselpauke)<br/>in ihrem Tanz, um sich zu begreifen. Aber<br/>später sitzt Du Old Billy oder generöser<br/>Don, aber später sitzt Du mit Deinen langen<br/>Beinen auf der Terrasse des Cafe Imperial,<br/>in dem der große Napoleon mit Herrn Pfem-<br/>fert Karten spielte. Es ist Biaritz oder Ost-<br/>ende, es ist San Sebastian oder Hoboken,<br/>nur Heringsdorf darf es nicht sein. Hand-<br/>schuhe aus einem für dich besonders ge-<br/>färbten Ziegenleder machen dich unannah-<br/>bar — Seelisch unannahbar, intellektuell un-<br/>annahbar, mon dieu moralisch unannahbar.<br/>Schon erschöpfen sich die Philosophien in<br/>den kleinen Vor- und Anworten. Du bist<br/>unannahbar — Kitty schickt Dir täglich um-<br/>sonst drei Messenger Boys, der russischen<br/>Fürstin tratst Du in die Weichen, rot-<br/>haarigen Weibern schlug man die Fresse<br/>entzwei. Du besinnst dich ganz auf dich<br/>selbst, du machst die Geschichte der Zeit<br/>wie man ein Kind macht — du erlebst den<br/>wahnsinnigen Moment (siehe oben!) —<br/>deine Ruhe ist hyperenglich und jenseits<br/>aller Bewunderung.<br/><br/>Wir besinnen uns, daß wir immer ganz<br/>kalt waren, selbst an dem Tage, als wir<br/>den Primäraffekt entdeckten. Ganz kalt,<br/>Spieler und Gegenspieler, Eis und Gegeneis,<br/>Antipoden aus eisigster Berechnung. Diese<br/>Feststellung läuft einem den Magen ein,<br/>peitscht die Dicken aus den Dichtersesseln,<br/>dreht die Gotik zu unterst und oberst. Ohne<br/>Prinzipien zu leben wird fast unmöglich sein<br/><br/>— wir Sklavenhalter haben unsere Sklaven.<br/>Aber die Prinzipien der Sentimentalität —<br/><br/>ei, ei, Dr. Rubiner ei, ei, Herr Dr. Pan-<br/>haas — nun entdeckten sie, daß die Logik<br/>der eigenen Seele ein allzu kindliches Phan-<br/>tasma ist. Wer sich eine Religion macht,<br/>wird der Bonze seines Katechismus, Exeget<br/>seiner seelischen Exkremente. Wer seiner<br/>Logik lebt, ist ein Lügner. Wir haben unsere<br/>Kälte, wir haben unsere Elastizität. Ihr seid<br/>entweder westlich oder östlich orientiert,<br/>euch hat Amerika gefressen oder die Neger<br/>von St. Domingo — unsere Gelassenheit<br/>bleibt immerhin bewundernswert. Deine<br/>Religion imponiert mir nicht, Jung. Ich<br/>habe auf der Terrasse des Cafe Im-<br/>perial gesessen — Schuhe aus Paris,<br/>Wäsche aus London, Geilheit aus Ber-<br/>lin. Ich bin eine internationale Nummer.<br/>Da schreien die Pessimisten und Men-<br/>schenkenner: Er hat das Sakrament ver-<br/>höhnt, er hat unseren heiligsten Augenblick<br/>verhöhnt (wenn die Kulissen auseinander-<br/>klaffen usw.), ihm ist die Seele Geschäft,<br/>ihm sind die Weiber Geschäft, er hat seiner<br/>Großmutter eine Stricknadel in den Nabel<br/>gesteckt — dieser Hund, dieser Schuft,<br/>dieser Sensationist und unpolitische Mensch.<br/>Nun — in dem Augenblick gänzlicher Ver-<br/>lassenheit und glücklichen Blödsinns —<br/>recke ich mich auf meinen Zehen: Aber<br/>Geschäft ist Seele, und wenn du ein Weib<br/>kaufst, so kommunizierst Du. Schließlich<br/>wird alles davon abhängen wie beweglich<br/>Du bist, ob Du mit deiner letzten Senti-<br/>mentalität soupieren gehen kannst. Alles<br/>muß dich aber tiefer berühren, dich tumul-<br/>tuarisch entzücken. Gedanken müßten Deine<br/>Haut zerreißen können, deine Kinnbacken<br/>zertrümmern können, dein Herz, wenn es<br/>nötig wäre, zum Stillstand bringen können.<br/>Da sitzen zum Beispiel 30 Nonnen um einen<br/>Tisch im Esplanade und spielen Skat. Sie<br/>sind im Hemd und freuen sich. Da ist ein<br/>englisches Horn, welches Herr Johnson<br/>bläst, ein Triangel, das von Weiß geschlagen<br/>wird, und eine Guitarre, an der Herr Hal-<br/>lensieben herumreißt. Drei Weiber haben<br/>sich absentiert. Whiski bleibt wichtiger als<br/>Kartenspiel. Sehen sie — da liegen sie in<br/>der Portierloge — kein Mensch hat ihnen<br/>
4<br/><br/>eine Decke zum Wärmen gegeben. Auch<br/>Sie nicht, Meister Panhaas, auch Sie nicht,<br/>kleiner Lümmel, Qewürzhändler und Kot-<br/>verkäufer. Warum nicht, frage ich, warum<br/>nicht, kleiner Panhaas, Gewürzhändler und<br/>Kotverkäufer? Ach, was sind Sie schwach<br/>und gebrechlich geworden,seitdem Sie im-<br/>mer Revolution machen Es ist ein<br/><br/>Elend. Und bedenkgn Sia^^drei Nonnen,<br/>drei Nonnen mit db^naps^Jajtfl im Hemd.<br/>Das hätte Sie an Ihre^tfesteiCrgge erinnert,<br/><br/>als Sie<br/>Üten und<br/>kch oben<br/>qmatis-<br/>Gute<br/>(ja.<br/><br/>ienttffoLfa-<br/><br/>an ihre Zirkus- und^Eahrra<br/>noch die Kraft in deiqJSeine<br/>nicht im Kopf. Es hat si^ alle'<br/>verzogen — das ist ein v<br/>inus der Seele und des Ver:<br/>zerstäubt wie Nebel um u<br/>ja, das nenn ich eine schö<br/>brizieren).<br/><br/>Unter diesen Umständen —<br/>das so bald gedacht — ist<br/>ordentliches Glück und ein<br/>mels, daß man den Herrn fand<br/><br/>gen herabsurren. Dr. Billig — Flaggen-<br/>marsch Philippe Sousa — Revue im hell-<br/>erleuchteten Folies Bergere — sensationelle<br/>Verhaftung in Whitchapel. Die Romane des<br/>Mr. Wells reichten an diese Phantastik nicht<br/>heran. In diesem Falle hätte kein Goethe,<br/>kein Dostojewsky helfen können, in diesem<br/>Falle standen die Zuschauer nackter als Dr.<br/>Billig, ihre Seelen, Beine und Kinnladen<br/>schlotterten. Nicht die geringste Sentimen-<br/>talität fand mehr ihre Berechtigung. Sehen<br/>Sie — da hätten sie eine Gelegenheit ge-<br/>habt, Ihren Scharfsinn anzuwenden, Ihre<br/>Einstellung zu präzisieren.<br/><br/>Die Tatsachen beginnen wieder zu steigen,<br/>sich zu komplizieren. Es dreht sich. Der<br/>Mann hatte eine Geliebte, die Rosa hieß<br/>oder Kathie (Frauen, die man zu Hause<br/>Katerchen oder Röschen nennt). Diese Frau<br/>hatte wiederum einen Onkel2 dem man die<br/>niedrigsten Leidenschaften nachsagte und<br/>der bedenklicherweise schon in seiner Ju-<br/>end leichtsinnig gewesen sein soll. Der<br/><br/>Zufall Hiny^<br/>nd, der errege<br/><br/>Anfall ehrlicher Begeisterung die Ho:&>aur^J|nkel ist strahlend und schön — ich klam-<br/>dem Potsdamerplatz herunterließ. Diesem Vngre mich an den Onkel, mag man sagen<br/>alles auf. Unsere Einstellung wird eine OJ. man will. Man sieht sie zu hunder-<br/><br/>und eindeutige werden — man kann daflfti teföhit fabelhafter Geschwindigkeit an den<br/>die Gegensätze zwischen uns und unserw^L^Hä^örfronten hochgehen, im Altweiber-<br/>Feinden gut bemerken. Unser wahnsinnige*!^somm^oder an hellen Frosttagen. Die elek-<br/>Moment (siehe oben) wird der Zentral- umr^1<br/>Mittelmoment aller Menschen sein. Dies ver-<br/>danken wir — ohne Vorbehalt sei es gc-<br/>sagt — dem Dr. Billig, der in einem Anfall<br/>ehrlicher Begeisterung die Hosen auf dem<br/>Potsdamerplatz herunterließ. Man hatte ihn<br/>schon einige Tage in Heidelberg beobachtet;<br/>dann fand ihn ein Schutzmann in Mannheim,<br/>als er wirre Reden ausstieß, die Vorsitzende<br/>des Fröbeheims gab ihm ein Glas Milch<br/>und die Kölnische Zeitung. Die Geschichte<br/>ist sehr verworren und kompliziert.<br/><br/>Auf den Plätzen der großen Städte sitzen<br/>zahlreiche Irren hinter den Blumenkästen<br/>und meckern laut. Man bemerkt sie sofort<br/>und man weiß, daß man sie mit Verachtung<br/>strafen muß.<br/><br/>Dieser Dr. Billig aber — hier zerreißt das<br/>Lügengewebe jahrzehntelanger Gelehrten-<br/>arbeit. Hier, meine Herren, ist der Lichtblick<br/>im Dunkel psychologischer Verzerrtheit —<br/>hier ist der Mestizentanz der Freudianer<br/>eminent. Es ist eine der unerhörten Tat-<br/>sachen, die mit Wut aus den Hinterhäusern<br/>kollern, aus den Kloaken steigen, von den<br/>elektrischen Drähten der Hochspannleitun-<br/><br/>risch^Bahn klingelt scharf und kleine in<br/>h wlilmeballte Wolken fallen und platzen<br/>denCR^lsern.<br/><br/>& BilltShätte das ordinäre (um ein Bon-<br/>mdlwLzu v|||tf£iden) Verlangen haben kön-<br/>nen,^^der?^g£lage der dreißig Nonnen im<br/>Esplatöde te^anehmen. Er hätte sich nur<br/>einen Wäwarz Gt nzug zu leihen brauchen<br/>für 7.50*^ Di^*p^hn Gebote ruft man sich<br/>schnell in^^jeda^^ zurück, und der ka-<br/>tholische Ritus Vjrceder bequemste bei<br/>einem GasttnjjRl dtSjTrimalchio.<br/><br/>Es ist un^rjiört, ^©»welche Sensationen<br/>man verzichten rrmßj um zu seinem Ziel zu<br/>kommen. Untaraessen wird das Ziel zur<br/>mächtigsten Sensation. Das ist ja die Ge-<br/>meinheit. Der Onkel sagt Dir wahrschein-<br/>lich: Höre Billig — es handelt sich um<br/>deine Zukunft. Du hast .von Natur schöne<br/>Gaben — lerne ein „ehrliches Handwerk“.<br/>Du gehst in eine Schneiderwerkstatt, nähst<br/>Hosenknöpfe, stellst Dich als Führer auf<br/>eine Trambahn, um mit 125 M. im Monat<br/>dein Weib in Ehren zu schwängern. Der<br/>Onkel sitzt längst in der Picadilly-Bar. Kitty<br/>hat ihre Hand auf sein Temperament gelegt.<br/>
5<br/><br/>Manhattan ist Trumpf. Hennessy oder<br/>Grand Marnier. Der George Groß zerfetzt<br/>seine Brasil im Maul — Cadoza — Cadoza<br/>— das nenne ich alle Tage ein gutes und<br/>edeles Leben führen. Die Herren Kölsch<br/>und Seiffert, die Herren Große-Schmittmann<br/>und Vogler, ja sogar dgr An|*rwch|g-nwistj<br/>Bordiert, wischen mit ihren Bäuchen die<br/>Tische ab. Wir W^pt^fe^cli^sten ybenl<br/><br/>Onkel ihr Bein auf den Schoß gelegt. Der<br/>Rotwein floß ihm ins Lavalier.<br/><br/>Eines Tages sagt jemand zu dir: „Billig,<br/>Du bist ein wadkerer Mann!“ Du merkst,<br/>wie die Dinge gegangen .sind und weinst<br/>bitterlich.<br/><br/>Der Onkel sitdlfcum Beispiel bei Kathi<br/>oder bei Rosa uim sag^ iu ihr: „Hör mal,<br/>der Billig.“ OdenMr „Hm — wie ich<br/>mir die Dinge denke, das ist ein großer<br/>Unterschied.“ Da merkt dann die Kathi oder<br/>die Rosa, daß sie immer zu kurz gekommen<br/>ist. Es gab Nächte, wo Billig energisch war.<br/>Das war Pose oder Verdrängungskomplex.<br/>Es gab Nächte, wo Billig wehmütig war,<br/>das hätte er einem ersparen können. Es<br/>gab aber Nächte, wo Billig einfach nicht<br/>konnte — und das verzeiht man ihm nie.<br/><br/>Billig kommt vielleicht in diesem Moment<br/>ins Zimmer, die Kravatte ist ihm aber über<br/>den Kragen gerutscht. Billig hat wieder die<br/>grauen Hosen an, auf der^nan die Suppen-<br/>reste der letzten Woche<br/>bildet die Hose ein Nesj| |d^|m fiel<br/>kleine, lächerliche Falten ausgehen. Das<br/>treibt einem die Schamröte ins Gesicht, aber<br/>hinten ist es eine Katastrophe. Hinten hat<br/>es die Seele der müden Droschkenpferde,<br/>es ist ein Käse, ein Spielzeug für Greise, eine<br/>Leiche im Baum, ein pornographisches Kino-<br/>theater.<br/><br/>Für Billig ist eine Niede^age jetzt unver-<br/>meidbar, und ffittn, wo er alles<br/><br/>weiß) nur nodClditJh'wlillad zu wirken.<br/>Die Taktik ist gefährlich, auf die Mutter-<br/>instinkte der Kathi berechnet, aber der Onkel<br/>hat zufällig —es ist unsagbar — grünseidene<br/>Strümpfe an. Weltuntergang.<br/><br/>Der verzweifelte Mensch ist ein Zeichen<br/>der Zeit, in seinem Herzen liest man die<br/>Geschichte der Zeit. Er sitzt in den Klosetten<br/>als blinder Mann und raucht eine Pfeife<br/>mit dem Bild des Altmeisters Hindenburg.<br/>Man sieht ihn als tätowiertes Phänomen<br/>in Kastans Panoptikum. Sein Bauch hat Fal-<br/><br/>ten wie der Bauch einer Frau, die sechsmal<br/>geboren hat, auf seinem Arm, der schon<br/>einigemal auf den Seziertischen der Anato-<br/>mien lag, liest sich ein schönverschlüngenes:<br/>Gott mit uns. Man sieht den verzweifelten<br/>Menschen als einen ausgestopften Vogel hier<br/><br/>den Fenstern der<br/>r Hurenhäuser. Man<br/>enskenntnis, um ihn<br/>eckte den Dr. Billig<br/>gleich und zwar zu einer Zeit, als dieser<br/>seinen Beruf — er war Diplomingenieur —<br/>schon aufgegeben hatte. Die Zeichen mehr-<br/>ten sich. Manchmal streicht einer offenbar<br/>zufällig mit Farbe an deinem Rock vorbei,<br/>aber du siehst noch an seiner Handbewe-<br/>gung, daß es auf dein Leben abgesehen war.<br/>Im Restaurant gießt dir die Kellnerin die<br/>fette Suppe auf die Hose — sie sind über-<br/>eingekommen, dir ein Kleidungsstück nach<br/>d£jn anderen zu verderben. Sie wollen dich<br/>haben, wenn siedich|töten.^<br/><br/>ucn TCTSiTIegt<br/><br/>die Vorderpfoten aufs Stakett, und es ist<br/>ganz deutlich für einen guten Beobachter,<br/>daß man sie auf den Mann dressiert hat,<br/>um sie eines Tages gegen den Billig zu<br/>gebrauchen. Ja — um alles zu sagen —<br/>es wurde sogar jener künstliche Mond ge-<br/>sehen, von dem Wißmann schreibt und den<br/>er beol^chtete, als er den Sambesi über-<br/><br/>_sqyj. J^bfgid stahl Billy dem Billig<br/>ein Paar gutgefütterte Handschuhe aus der<br/>Überziehertasche, und Billig legte dem Billy<br/>voll Hohn eine Stinkbombe unters Gesäß.<br/>Da wußten sie, daß sie Freunde waren.<br/>Billig hätte ohne Zweifel, wie schon betont<br/>worden ist, an dem Gelage teilnehmen kön-<br/>nen, das von den dreißig Nonnen im Es-<br/>planade unter so überaus günstigen Um-<br/>ständen abgehalten wurde. Die Zeit ist ge-<br/>schaffen für solche Dinge, sie gebiert sie,<br/>speit sie aus und freut sich über sie. Billig<br/>hätte sich einen tiefen Einblick in das Wesen<br/>der Dinge verscjß^en können, der Grund<br/>vieler Philosophnlte|Avare ihm aufgegangen.<br/>Drei hatten sich Cordelia, Mar-<br/><br/>got und Loulou. ^WniÄn^fflieb ihnen wich-<br/>tiger als Kartenspiel. Sie fanden sich in der<br/>Portierloge, die man leider zu heizen ver-<br/>gessen hatte. Dies war ein Fall — wie ge-<br/>schaffen für Billig. Wäre sein Charakter<br/>nur irgendwie äthetisch tendiert gewesen,<br/>
4
gen herabsurren. Dr. Billig — Flaggen-
marsch Philippe Sousa — Revue im hell-
erleuchteten Folies Bergere — sensationelle
Verhaftung in Whitchapel. Die Romane des
Mr. Wells reichten an diese Phantastik nicht
heran. In diesem Falle hätte kein Goethe,
kein Dostojevvsky helfen können, in diesem
Falle standen die Zuschauer nackter als Dr.
Billig, ihre Seelen, Beine und Kinnladen
schlotterten. Nicht die geringste Sentimen-
talität fand mehr ihre Berechtigung. Sehen
Sie — da hätten sie eine Gelegenheit ge-
habt, Ihren Scharfsinn anzuwenden, Ihre
Einstellung zu präzisieren.
Die Tatsachen beginnen wieder zu steigen,
sich zu komplizieren. Es dreht sich. Der
Mann hatte eine Geliebte, die Rosa hieß
oder Kathie (Frauen, die man zu Hause
Katerchen oder Röschen nennt). Diese Frau
hatte wiederum einen Onkel, dem man die
eine Decke zum Wärmen gegeben. Auch
Sie nicht, Meister Panhaas, auch Sie nicht,
kleiner Lümmel, Gewürzhändler und Kot-
verkäufer. Warum nicht, frage ich, warum
nicht, kleiner Panhaas, Gewürzhändler und
Kotverkäufer? Ach, was sind Sie schwach
und gebrechlich geworden,seitdem Sie im-
mer Revolution machen Es ist ein
Elend. Und bedenken Sia^^drei Nonnen,
drei Nonnen mit {E&naps^uad im Hemd.
Das hätte Sie an Ihr^j^esteiCrage erinnert,
an ihre Zirkus- und SghrradESgl, als Sie
noch die Kraft in deir^einerOKdten und
nicht im Kopf. Es hat si^i allefjÄch oben
verzogen — das ist ein rtßtaer 1
mus der Seele und des VersllSiides
zerstäubt wie Nebel um uiraje
ja, das nenn ich eine schöffe^ent
brizieren).
Unter diesen Umständen — uiüPwer
das so bald gedacht — ist es ^nauft®^ niedrigsten Leidenschaften nachsagte und
ordentliches Glück und ein Zufall % Hum- -, der bedenklicherweise schon in seiner Ju-
mels, daß man den Herrn fand, der üfcinerffJVgend leichtsinnig gewesen sein soll. Der
Anfall ehrlicher Begeisterung die Ho^^au'^gnkel ist strahlend und schön — ich klam-
dem Potsdamerplatz herunterließ. Die^feärc Vngre mich an den Onkel, mag man sagen
alles auf. Unsere Einstellung wird eine töiman will. Man sieht sie zu hunder-
und eindeutige werden — man kann dstöi teOnit fabelhafter Geschwindigkeit an den
die Gegensätze zwischen uns und unserer ^Häufcjjffronten hochgehen, im Altweiber-
Feinden gut bemerken. Unser wahnsinnige!^soniV&Äoder an hellen Frosttagen. Die elek-
^^risdrrBahn klingelt scharf und kleine in
h wlmkeballte Wolken fallen und platzen
denCRäasern.
BilftfOiätte das ordinäre (um ein Bon-
mdai zu \%a»eiden) Verlangen haben kön-
nen,denVodage der dreißig Nonnen im
Esplatöde tdlpsflnehmen. Er hätte sich nur
einen ^mwarz nzug zu leihen brauchen
für 7.50*^ Die^phn Gebote ruft man sich
schnell in^^ied; zurüök, und der ka-
tholische Ritus \|$peder bequemste bei
einem GastfnjRl diJsjTrimalchio.
Es ist un£rjiört, «|©»welche Sensationen
man verzichten rrmßj um zu seinem Ziel zu
kommen. Untetfoessen wird das Ziel zur
mächtigsten Sensation. Das ist ja die Ge-
meinheit. Der Onkel sagt Dir wahrschein-
lich: Höre Billig — es handelt sich um
deine Zukunft. Du hast .von Natur schöne
Gaben — lerne ein „ehrliches Handwerk“.
Du gehst in eine Schneiderwerkstatt, nähst
Hosenknöpfe, stellst Dich als Führer auf
eine Trambahn, um mit 125 M. im Monat
dein Weib in Ehren zu schwängern. Der
Onkel sitzt längst in der Picadilly-Bar. Kitty
hat ihre Hand auf sein Temperament gelegt.
Moment (siehe oben) wird der Zentral- und
Mittelmoment aller Menschen sein. Dies ver-
danken wir — ohne Vorbehalt sei es gt-
sagt — dem Dr. Billig, der in einem Anfall
ehrlicher Begeisterung die Hosen auf dem
Potsdamerplatz herunterließ. Man hatte ihn
schon einige Tage in Heidelberg beobachtet;
dann fand ihn ein Schutzmann in Mannheim,
als er wirre Reden ausstieß, die Vorsitzende
des Fröbeheims gab ihm ein Glas Milch
und die Kölnische Zeitung. Die Geschichte
ist sehr verworren und kompliziert.
Auf den Plätzen der großen Städte sitzen
zahlreiche Irren hinter den Blumenkästen
und meckern laut. Man bemerkt sie sofort
und man weiß, daß man sie mit Verachtung
strafen muß.
Dieser Dr. Billig aber — hier zerreißt das
Lügengewebe jahrzehntelanger Gelehrten-
arbeit. Hier, meine Herren, ist der Lichtblick
im Dunkel psychologischer Verzerrtheit —
hier ist der Mestizentanz der Freudianer
eminent. Es ist eine der unerhörten Tat-
sachen, die mit Wut aus den Hinterhäusern
kollern, aus den Kloaken steigen, von den
elektrischen Drähten der Hochspannleitun-
5
Manhattan ist Trumpf. Hennessy oder
Grand Marnier. Der George Groß zerfetzt
seine Brasil im Maul — Cadoza — Cadoza
— das nenne ich alle Tage ein gutes und
edeles Leben führen. Die Herren Kölsch
und Seiffert, die Herren Große-Schmittmann
und Vogler, ja sogar dftr A^fH^uchvnwistj
Borchert, wischen mit ihren Bäuchen die
Tische ab. Wir Wä|phcfe||chisten haben
die große Stunde. ÄurÄha^dil llittyHLde
Onkel ihr Bein auf den Schoß gelegt. Der
Rotwein floß ihm ins Lavalier.
Eines Tages sagt jemand zu dir: „Billig,
Du bist ein wadkerer Mann!“ Du merkst,
wie die Dinge gegangen .sind und weinst
bitterlich.
Der Onkel sitzL^um Beispiel bei Kathi
oder bei Rosa uiq; spagt jfu ihr: „Hör mal,
der Billig.“ Ode^w „Hm — wie ich
mir die Dinge denke, das ist ein großer
Unterschied.“ Da merkt dann die Kathi oder
die Rosa, daß sie immer zu kurz gekommen
ist. Es gab Nächte, wo Billig energisch war.
Das war Pose oder Verdrängungskomplex.
Es gab Nächte, wo Billig wehmütig war,
das hätte er einem ersparen können. Es
gab aber Nächte, wo Billig einfach nicht
konnte — und das verzeiht man ihm nie.
Billig kommt vielleicht in diesem Moment
ins Zimmer, die Kravatte ist ihm aber über
den Kragen gerutscht. Billig hat wieder die
grauen Hosen an, auf der^nan dje Suppen-
reste der letzten Wochei-
bildet die Hose ein Nesj| jj|cji f|l4jfü£ fiel
kleine, lächerliche Falten ausgehen. Das
treibt einem die Schamröte ins Gesicht, aber
hinten ist es eine Katastrophe. Hinten hat
es die Seele der müden Droschkenpferde,
es ist ein Käse, ein Spielzeug für Greise, eine
Leiche im Baum, ein pornographisches Kino-
theater.
Für Billig ist eine Niededage jetzt unver-
meidbar, und ir&vfr&idffo iiÄn, wo er alles
weiß) nur no(®|dfelh^Ail6id zu wirken.
Die Taktik ist gefährlich, auf die Mutter-
instinkte der Kathi berechnet, aber der Onkel
hat zufällig —es ist unsagbar — grünseidene
Strümpfe an. Weltuntergang.
Der verzweifelte Mensch ist ein Zeichen
der Zeit, in seinem Herzen liest man die
Geschichte der Zeit. Er sitzt in den Klosetten
als blinder Mann und raucht eine Pfeife
mit dem Bild des Altmeisters Hindenburg.
Man sieht ihn als tätowiertes Phänomen
in Kastans Panoptikum. Sein Bauch hat Fal-
ten wie der Bauch einer Frau, die sechsmal
geboren hat, auf seinem Arm, der schon
einigemal auf den Seziertischen der Anato-
mien lag, liest sich ein schönverschlüngenes:
Gott mit uns. Man sieht den verzweifelten
Menschen als einen ausgestopften Vogel hier
jm* 4 j^scpdear^ den Fenstern der
kleinen Vaiietes und der Hurenhäuser. Man
brÄchl nifcht kiel Lejfjens'kenntnis, um ihn
zu %d€ed&n. whll^enroeckte den Dr. Billig
gleich und zwar zu einer Zeit, als dieser
seinen Beruf — er war Diplomingenieur —
schon aufgegeben hatte. Die Zeichen mehr-
ten sich. Manchmal streicht einer offenbar
zufällig mit Farbe an deinem Rock vorbei,
aber du siehst noch an seiner Handbewe-
gung, daß es auf dein Leben abgesehen war.
Im Restaurant gießt dir die Kellnerin die
bette Suppe auf die Hose — sie sind über-
eingekommen, dir ein Kleidungsstück nach
d£jn anderen zu verderben. Sie wollen dich
rnaki haben, wenn siedich| töten..
die Vorderpfoten aufs Stakett, und es ist
ganz deutlich für einen guten Beobachter,
daß man sie auf den Mann dressiert hat,
um sie eines Tages gegen den Billig zu
gebrauchen. Ja — um alles zu sagen —
es wurde sogar jener künstliche Mond ge-
sehen, von dem Wißmann schreibt und den
er beol^chtete, als er den Sambesi über-
_s^ J£bf|id stahl Billy dem Billig
ein Paar gutgefütterte Handschuhe aus der
Überziehertasche, und Billig legte dem Billy
voll Hohn eine Stinkbombe unters Gesäß.
Da wußten sie, daß sie Freunde waren.
Billig hätte ohne Zweifel, wie schon betont
worden ist, an dem Gelage teilnehmen kön-
nen, das von den dreißig Nonnen im Es-
planade unter so überaus günstigen Um-
ständen abgehalten wurde. Die Zeit ist ge-
schaffen für solche Dinge, sie gebiert sie,
speit sie aus und freut sich über sie. Billig
hätte sich einen tiefen Einblick in das Wesen
der Dinge verscjpi!|en@ können, der Grund
vieler Philosophifij|ware Jhm aufgegangen.
Drei hatten sich ^^ltlir^- Cordelia, Mar-
got und Loulou. ^whiÄd^Efiieb ihnen wich-
tiger als Kartenspiel. Sie fanden sich in der
Portierloge, die man leider zu heizen ver-
gessen hatte. Dies war ein Fall — wie ge-
schaffen für Billig. Wäre sein Charakter
nur irgendwie äthetisch tendiert gewesen,
6<br/><br/>sicht,<br/>nicht s<br/><br/>hätte er nur irgendwie den Tod eines Ver-<br/>wandten zu beklagen gehabt, ,er hätte an<br/>diesem Gelage teilnehmen müssen. .Aber<br/>er erlag nicht. Verzweifelte Menschen haben<br/>ein Ziel — sie sehen ihr Ziel durch die<br/>tanzenden Häuser und die schreienden<br/>Brücken, sie erhoffen eine Rettung — und<br/>so konnte der Eintritt der Katastrophe nicht<br/>zögern, der hier so vielen zur befreienden<br/>Tat geworden ist. Billig entschloß sich zu<br/>dem, was am Anfang und oben gesagt wor-<br/>den ist aus einer tiefen Not seiner Seele,<br/>um eine schnelle Rettung vor einem Heer<br/>von Gespenstern zu finden.<br/><br/>In der Geschichte der Zeit spielt die be-<br/>freiende Tat eine sehr absonderliche Rolle.<br/>Billigs öst1iche Orientierung wurde hier zum<br/>Verhängnis. Dabei halte ich die streng mete-<br/>orologische Beobachtungsweise für die rich-<br/>tigste. Tatsachen haben immer die Welt in<br/>Atem gehalten, aber auf „den Atem kommt es<br/>an, hier sitzt, wie man sagt, der Kern. Es<br/>könnte zum Beispiel jemand kommen und<br/>sagen: mit Schopenhauer bin ich_jder<br/><br/>lan<br/>Id er!<br/><br/>seiner Armmuskeln beschäftigt hätte,<br/>des*<br/><br/>freiqacien<br/><br/>versuch suchen. ,,‘Pantä rheT“' me int” schon<br/>der alte Philosoph, und ich glaube bei Zu-<br/>stimmung aller können wir sagen: er hat<br/>Recht damit.<br/><br/>Billig, dessen Persönlichkeit uns zur Ge-<br/>schichte der Zeit so überaus wichtig er-<br/>scheint, würde sich zu allem diesem un-<br/>gefähr folgendermaßen geäußert haben:<br/><br/>Tempo, Tempo, meine Damen, hier treten<br/>Sie ein, setzen Sie den Fuß in den Seelen-<br/>verkäufer, lassen Sie den Wilden erst den<br/>Tricot von der Haut ziehen, ehe Sie die<br/>Lippen zum Kusse spitzen. Tempo, Tempo,<br/>meine Damen und Herren — da walkt<br/>man die Lichtreklamen durch den Leib des<br/>Ortspfaffen, da steigt der große Mond aus<br/>dem Rachen des Paralytikers, polternd und<br/>schnurrend. Eilet, eilet, hebt die Beine, die<br/>Herzen, feuert die Hosen an, knattert den<br/>Motor der Weiberhemden los — verdammt,<br/>seht, seht, das Lasso fliegt, das Leben ent-<br/>steigt der Kloake, der Greis schüttelt die<br/>Moosperüdke — eilomen, eilomen — hier<br/>sehen Sie Cyra, die schöne Bundesgenossin<br/>in den Tänzen ihrer Heimat. Stimmung,<br/>Stimmung. Leporello der Wahnsinnige —<br/><br/>Labero als Mann ohne Seele — der Mann<br/>mit Seele — ach Du, Du Pope aller baju-<br/>varischen Niederkünfte und Erzengel der<br/>Verdrossenheit. Von den Pflöcken befreiten<br/>sich längst die Hengste, den Lorbeerkranz<br/>hing man im Rauchfang auf. Ja — ja, das<br/>ist der Sinn des Lebens, das ist das unter-<br/>irdische Grammophon. Azteken über Az-<br/>teken, Lämmergeier über Lämmergeier. Ach,<br/>ach, nein, nein — nun kommen Sie herein<br/>meine Damen und Herren, legen Sie das<br/>Herz in die Kopfbedeckung und lassen Sie<br/>Ihre Zähne von diesem Hund bewachen, den<br/>Ihnen die Gesell'schaft zu Ihrer Verfügung<br/>stellt.<br/><br/>Was wollen Sie von Sibirien? Sahen Sie<br/>nicht Sibirien in der Eisenbahn, im Ziegen-<br/>stall, auf blumiger Wiese, morgens, wenn<br/>die erste Sonne den Primäraffekt bescheint?<br/>Wie? Haben Sie kein Ehrgefühl? Generation<br/>um Generation schickte die Kinder ins Kino,<br/>und keiner hat es bis zum Geheimrat ge-<br/>bracht. O — Scham und Flötenspiel —<br/><br/>as gelten<br/>osaken-<br/>Wink<br/><br/>meines Freundes^ Purzej^ und der Apparat<br/><br/>die<br/><br/><br/><br/>für<br/><br/>ein Unglück ist geschehen in dieser evange-<br/>lischen Kirche? Eine Frau, meine Damen,<br/>eine Mutter ihres Sohnes, ich packe Sie<br/>bei Ihrem Mitleid, meine Damen, ein Sohn<br/>ihrer Mutter, eine arme .Wäscherin, gerät<br/>ins Unglück. Die phantastischen Teufel<br/>fahren ihr aus dem Ohr heraus — Wahnsinn,<br/>Wahnsinn, der helle Raubmord, Sibirien, Si-<br/>birien sag ich, Sibirien, Knutenhiebe auf<br/>das Gesäß, hei Gesäßhiebe auf die Knute<br/>— was man nicht deklinieren kann, das sieht<br/>man als ein Neutrum an — jawohl, immer<br/>herein — Sibirien, Sibirien. Hier schreibt<br/>der Maler Meidner seine Librettos mit einer<br/>Pfauenfeder, hier sehen Sie den melioristi-<br/>schen Tanzbär die Tonleiter seiner Be-<br/>schränktheiten durchüben. Hier sehen Sie<br/>die Düse, Agnes Sorel, und Minne haha in<br/>friedlichem Verein, hier sehen Sie Becher,<br/>das Genie von Berlin, und Däubler, den<br/>Übergewaltigen in lässiger Pose. Was ist<br/>Sibirien, meine Damen und Herren? Bringe<br/>die Lyra, Elfriede und reiße dem Papagei<br/>eine Schwanzfeder aus. Meine Pupillen sind<br/>verrenkt, von vielem Sehen überanstrengt,<br/>man muß mir blaue Lünetten bringen, daß<br/>
7<br/><br/>ich lebe und wach bin; denn, ach allzulange<br/>sah ich in die Eiswüsten und Mordfelder,<br/>wo die Polarfüchse als Ampeln zwischen den<br/>Sternen aufgehängt sind, wo der ekstatische<br/>Pater als porphyrfarbener Gletscher aufragt,<br/>wo von allem Gräßlichen ^)gesehen# das<br/>Herz im Leibe vert?jpdl|et.<br/>sind von mir dort^liMseicmflef<br/>meiner Freundin Iren. Warum kann ich<br/>mich nicht von ihr belügen lassen, warum<br/>kann ich sie nicht pucelle nennen: Sibirien,<br/>wie? — Na — antworten Sie doch, haben<br/>Sie keine Zunge, keine Lunge — nein? Sind<br/>Sie eine Puppe aus Ton, vielleicht nur Fik-<br/>tion von sich selbst, ein Gedanke, der Fleisch<br/>werden will. So manche Nachgeburt ist<br/>einem über den Weg gelaufen. Ssst Emil,<br/>eine Schale Gold — aus, sag ich aus, kein<br/>Bild mehr, keine Laterne, kein japanischer<br/>General.<br/><br/>Soll ich langsam wieder ich selbst werden<br/>— soll ich die Mondsüchtigen aus meinen<br/>Hirnschachteln vertreiben, das Fähnlein von<br/>der Nase nehmen? VieUeicht kann man das<br/>Unmögliche tun. Drei Jahre ma^<br/><br/>unter den Dattelpalmen und /ließ: sich; deiF<br/>Prinzen von Theben auf der Nas^jMri^-<br/>tanzen. Heraus mit mm, heraus mn dem<br/>Polkaprinzen, nieder mit den schreibenden<br/>Weiblein. Wenn man die Augen aufmachte,<br/>sah man die Burg mit der Sonnenzinne in<br/>einer hellen Luft, die Leoparden sah man,<br/>die Tiger und Zirkuselefanten. Da ward aus<br/>Abend und Morgen der fünfte Tag. Das<br/>Gebet wird von den Minaretten geleiert, die<br/>Türen der Freudenhäuser sind auf, an allen<br/>Schiffen werden die'Schattenwimpel hoch-<br/>gezogen. Sieh, sieh, den dadaistischen Tanz<br/>um den Löwen am Bürkliplatz. Sie haben<br/>einen Löwen aus Papiermache gemacht —<br/>der donnert gewaltig und läßt farbige Lichf-<br/>raketeiiaus schien Qhren.gehen. Ip$e feine<br/>iftdaw<br/><br/>naoen unsere ruße mit dem Fett der Ka-<br/>daver eingerieben — eilomen, eilomen —<br/>wir haben unsere Arme in das Blut der<br/>Pygmäen getaucht. Wie lange wird dieser<br/>Zustand dauern? Wie lange, frage ich, soll<br/>man die Wolken auf seinen Fingern balän-<br/>zieren? Nicht lange, meine Damen und<br/>Herren, lassen Sie Ihr Herz noch eine Mi-<br/>nute pulsieren, geben Sie der Lunge noch<br/>einen Stoß nach vorn, lassen Sie diese Mu-<br/>mie in ihrem Dauerschlaf — die Erlösung<br/><br/>naht, das Gepolter naht, der himmlische Ra-<br/>dau beginnt. Legen Sie Ihre Hände auf<br/>das kalte Eisen — wer weiß, wozu es gut<br/>ist. Fragen Sie nicht — nein, nein — o nein;<br/>ich höre Sie, wie Sie pfeifen, Levisohn,<br/>stecken Sie-die Pfeife Jn die Hosentasche,<br/>st kejn g|B#fäftföctres Unternehmen —<br/>lSie,^m® icn nmh^^sagt, schon stehen<br/>Sie unter Pari, und die Spatzen sitzen auf<br/>ihrem Zylinderhut.<br/><br/>Der Drahtseilkünstler wurde vom Blitz-<br/>schlag getroffen. Sein Schrei weckte uns<br/>aus den besten Gedanken — wir dachten<br/>an die Geburt der jungen Teufel, an die<br/>Gründe des Meers und die Glut aller ent-<br/>behrlichen Dinge — wir dachten an Wiesen<br/>weit. Kuppelmond, Hufschlag und Hexen-<br/>tanz. Wir dachten an den Mutterschrei der<br/>Erde — Wolken Zinnobers um unser Ohr.<br/>Ach, verwandt sind uns jene hageren Prie-<br/>ster, die sich den Leib mit Ketten schlagen,<br/>jene Harlekins über aller Welt, Seefahrer<br/>und Entdeckungsreisenden der Seele. Stünd-<br/>lich weckt uns der Schrei der Sterbenden<br/>Lethargie — wo — wo ist<br/>lal Sexenfest, der Brocken<br/>r abstrakten Phantasten,<br/>chaftenwald, der Blauwald, der<br/>Tänzer? Lautlos<br/>en, lautlos<br/>ie zu den<br/>und die<br/><br/>Frömmigkeit der Maiennacht. O Pflanzen,<br/>die ihr über die ersoffenen Hunde an den<br/>Waldseen wuchert. Das Tal träumt. Im<br/>Traum heben sich Städte, Städte lehnen sich<br/>im Traum an Berge, zwinkern mit Augen<br/>wie junge Mädchen. Ei — ei — sieh<br/>Mensch, sieh Mensch, Zwillingsbruder knie<br/>du, knie hin, lache den Mond an, bete die<br/>Keuschheit an, streu Erde auf dein Haar,<br/>zeajejße ctain Gewand. Nkam die ^ülle. ‘<br/>defflH Herz, lfßi; die Stille ii<br/>aumej^eryHDfe Dickteüfel •<br/>glünenden Kopfe iiroer aen tsrunnenr;<br/>Drache und Fledermaus zerfasern die Luft.<br/>Was ist mit der Luft, was ist mit dem Berg?<br/>Fluß R^d Tgejfluß, Mond wirdrBliftttiond.<br/>Versteift /$M ‘PlÄjTArtkurff^r sqhreie<br/>ZwilliigdöWie% JslWeflw'-4^wifidr und<br/>ab -— ewiges hin und heft^ber himmlische<br/>Klamauk beginnt, der coelestine Radau ist<br/>los. Pluder, Pluder, Pluder! Drei Schritte<br/>sind ein Schritt, Rückschritt und Fall. Kopf-<br/>hoch heißt Kopfab, zauberhaft schnell.<br/><br/>Mondwald<br/>drehen sie<br/>und schrei<br/>Sternen dr<br/>
8<br/><br/>weiße Frau schüttet die Burg aus, doch<br/>fange sie nicht. ElfenhanCf, Blumenkelch,<br/>Lepra und Lungenschwund — ohe — ohe —<br/>Krankenhaus, Leichenhaus. Aufgedunsene<br/>her, Frühgestorbene her, Selbstmörder ran-<br/>marschiert. Mund auf, Gong gerührt, Zeuge<br/>sein, Märtyrer sein. Ach, Zwillingsbruder,<br/>hör, hör, sieh nicht, sieh nicht, beiße die<br/>Lippen fest, höre den Jammer von Zehn-<br/>tausend Jahren. Alle starben sie für die<br/>Gerechtigkeit, und der Teufel holte sie doch.<br/>Alle starben sie für das Paradies, und die<br/>Hölle fraß sie auf. Keine Erklärung für<br/>solches Leid, nichts weiß man da. Ach<br/>Macht, Zwillingsbruder, Macht. Schmeiße<br/>den Zauberlehrling von seinem Stuhl — sieh<br/>dieser Bankier hat den Kinderkreuzzug<br/>gemacht. Dies Pferd ist unter ihm zu-<br/>sammengebrochen, und mit diesen Büchsen<br/>schießt er die Füchse tot. Warum schlägst<br/>du ihm nicht die Zähne aus dem Kiefer,<br/>schlitzt ihm nicht die Hose auf. Bist Du er?<br/>Ist er Du? Seine Lippen sind blau, Brunst<br/>hängt ihm am Bauch. Wo ist der Um-<br/>stürzler, der ihn vor einem Marienbild auf<br/>die Knie zwänge? Keiner ist da — niemand<br/>hört zu. Nimm ihm wenigstens das Bier<br/>weg, nimm, nimm, sage ich, bestehle ihn,<br/>behure ihn, beschimpfe ihn — mein Gott,<br/>was sag ich? bestehle ihn, beschimpfe ihn?<br/>Heraus, heraus will ich aus dieser Hölle,<br/>Luft, Luft — Gott sehn, Engel sehn, Bilder<br/>sehn, Rosenkränze. Gehen wir schnell zu<br/>dem alten Priester, der uns einsegnete — ein<br/>lebender Mensch muß Erbarmen haben,<br/>irgendwo muß sich die Tür öffnen. Eine<br/><br/>JUNG:<br/><br/>AMERIKANISCHE PARADE<br/><br/>Wind segelt Kurve. Freie Bahn — anschwel-<br/>lend Ebenen, Häuser, ein Laternpfahl, Mo-<br/>tor. Man achte auf den Rum — Tum! —<br/>Tiddle — Dance. Geist — flatternd — gei-<br/>stert nicht mehr. Beine, Hosengurt, ver-<br/>bündet sicherem Schuh, Hut in Diagonale,<br/>lächelnd leicht licht. Kulis, Japaner als Schul-<br/>meister setzen sich mit in Bewegung, mehr<br/>verdrossen. Triumphiert Kaugummi, später<br/>Havannah, später Whisky, dann zerhackter<br/><br/>Bombe darf ja platzen, rausschmeißen kann<br/>er mich auch — wie? er ist nicht da?<br/>warum? warum nicht? Fürchtet er für seine<br/>Blößen? Warum ist kein ,Mensch da wenn<br/>man ihn braucht? Warum ist kein Arzt da,<br/>wenn die Seele ihn braucht? Sind alle Men-<br/>schen Kurpfuscher, Harlekine, Hunde-<br/>menschen? Du tust das, du tust jenes. Tu<br/>mich, sag ich Dir— tu mich — Dein Zwil-<br/>lingsbruder schreit ums Leben. Ich bin<br/>Tischler und habe kein Holz, ich bin<br/>Schmied und habe kein Eisen. Habe Er-<br/>barmen mit mir, Du Mitmensch. Rüttle an<br/>deinem Bauch, schüttle deine Taschen aus.<br/>Ihr Lumpenhunde und Assmüclken, ihr<br/>Seelenverkäufer und Henker — werft euere<br/>Kinder hinter euch, sie sind zu nichts nütze.<br/>Reißt euch die Augen aus dem Kopf, sie<br/>haben falsch gesehen. Wozu das alles, wozu<br/>diese Geschwätzigkeit, wozu das Interesse<br/>an schönen Dingen? Ihr Bibliophilen und<br/>Literaturkrämer, ihr Drahtpuppen, Referen-<br/>dare und Medizinkandidaten — ihr Rechts-<br/>anwälte des Unrechts, ihr gesammten Ver-<br/>dreher des Daseins — he, he — heraus aus<br/>eueren Löchern ihr Igel qnd Feldmäuse, man<br/>hat die große Trompete an die Lippen ge-<br/>setzt, die Pauke wird geschlagen und die<br/>Sträflinge sind lös. Das jst der Tag des<br/>ewigen Gerichts. Lux tenebris lucet — der<br/>Apfel fällt nicht weit vom Stamm.<br/><br/>Ja, ja, da schlagt ihr euere Knochen zu-<br/>sammen — da pfeift ihr auf eueren hohlen<br/>Zähnen — eilomen, eilomen — die Zeit ist<br/>erfüllt — das Gewitter brach aus.<br/><br/>Knäuel quetscht sich die Philosophie, die<br/>Methode des Lebens, die Religion, sofern<br/>man das schwankende Ichgefühl in Kontakt<br/>dazu bringt, und die so benannten großen<br/>Gesten, wie Gebet, Revolution und Sing-<br/>sang. Liebe ist das Gebet der Menschen<br/>zu- und miteinander — es liegt mir daran,<br/>allgemein verständlich zu bleiben.<br/>Trotzdem handelt es sich um das Unglück.<br/>Ich will, daß das Unglück marschiert. Merry-<br/>
0<br/><br/>Makers Tanz. Ich selbst bin unglücklich<br/>(will sein). Wenn auch nicht vollkommen<br/>— etwas derartiges hier zu schreiben ist<br/>schon Pech. Man weiß, daß ich mich da-<br/>gegen wende. Das Unglück wird alle Dämme<br/>niederreißen. Gott Unglück — ich bewege<br/>mich in Kindheitserinnerung. Das Unglück,<br/>das sich aufbäumt gegen das Licht.<br/><br/>Das Unglück, das Glieder und Gedärme<br/>frißt. Das Unglück — Leid ist nur eine<br/>schwache Vorahnung. Schmerz wie Ab-<br/>sinth, Cocain, Malaria und Guillotine wäh-<br/>rend der großen Revolution — das Unglück<br/>ist sozusagen fabelhaft erstklassig und hält<br/>durch. Unglück gegen Glück — keine Frage.<br/>Eine Frau vergräbt ihr Kind, das sich an<br/>sie anklammern will, ein Mann, von Liebe<br/>umlagert, zerbeißt eine Dynamitpatrone,<br/>nicht mehr mithalten zu können im verant-<br/>wortlichen Rhythmus des Sichsehnens, wie<br/>das Kind, das sich noch anklammern will,<br/>mit einem Wort: das Erleben, das ist Un-<br/>glück.<br/><br/>Gut geschrien. Die Pechfritzen, Weltver-<br/>besserer, Sexualitäter paffen die Gesetzes-<br/>wolken. Immer neues Pech. Die Pechia-<br/>ter sind Hans im Glück. Zwischen Pech<br/>und Glück liegt die Stellung zur Ordnung,<br/>die für jeden Einzelnen so tausendfältig dif-<br/>ferenzierte, so daß jeder gleich 10 Stellun-<br/>gen in einer dazu aufbringt. Aus diesem<br/>Chorgesang um die Gnade des Herrn, dann<br/>Scheck. Rrumi — Tum. Massen! Massen<br/>-----Es genügt nicht, den Japaner zu ver-<br/>achten, ehemals zu belächeln, gegenwärtig<br/>zu fürchten. Unterkriegen, gelber werden.<br/>Randlaken und in Spannung halten.<br/><br/>Dabei wird der Einzelne jünger. Jung, Franz<br/>Jung. Demokratie gleich Freibier.<br/><br/>Wer abfällt, fällt ab. Die Sekten werden<br/>schärfer.<br/><br/>Es wird ein verfluchter Schwindel damit<br/>getrieben, daß irgend etwas gehemmt sein<br/>soll, wo nur aufgeräumt wird. Es fehlt das<br/>Konsortium dafür, die Abgestempelten. Es<br/>regieri noch das Gesetz — man könnte<br/>eine Tirade dranhängen: über Hoch und<br/>Niedrig lastend und lockend zu sanfter Ruh,<br/>geschmäht, gefürchtet und in bitteren Zwei-<br/>felstränen ersehnt aus dem Besten des Men-<br/>schen zum Besten, das Gesetzglück, dem'<br/>der Widerspruch (auf dem Marsch) noch<br/>nicht genügend Balance zu halten gelernt<br/>hat — das Unglück. Ich bitte um Ver-<br/>zeihung: Unglück ist mehr wie Glück —-<br/><br/>obwohl das schon in der Bibel steht. Aber<br/>ich1 meine nicht das Pech. Die Leute, die<br/>heute jammern, haben Pech. Pech heißt:<br/>das Gesetz über dir.<br/><br/>Sich erleben, das Glück — Pech erleben,<br/>das Unglück erleben. Erleben erleben —<br/>Weil wer Hilfe schreit — vielleicht noch<br/>nicht einmal der Autor — weil1 wer noch<br/>irgendwo zappelt, das Blatt Papier, der Ge-<br/>danke, die Masse biegt um die Ecke —<br/>Alexanders Ragtimes band — die Partei, der<br/>Autor. Darum wird die Zertrümmerung<br/>unseres Seins dennoch marschieren.<br/><br/>Das Unterkriegen, in fremden Spannungen<br/>fixiert.<br/><br/>Der Pfiff!!<br/><br/>Von diesem Prospekt sind 50 Exemplare mit<br/>der Signatur der Herausgeber versehen worden<br/>und zum Preise von 5 Mark pro Exemplar<br/>erhältlich.<br/><br/>10 signierte Exemplare denen ein handge-<br/>schriebenes Gedicht von Richard Huelsenbeck<br/>beiliegt werden zum Preise von 10 Mark pro<br/>Exemplar verkauft.<br/><br/>Bestellungen sind zu richten an R. Huelsenbeek<br/>Charlottenburg Kantstrasse 118 111.<br/><br/>
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hätte er nur irgendwie den Tod eines Ver-
wandten zu beklagen gehabt, ,er hätte an
diesem Gelage teilnehmen müssen. .Aber
er erlag nicht. Verzweifelte Menschen haben
ein Ziel — sie sehen ihr Ziel durch die
tanzenden Häuser und die schreienden
Brücken, sie erhoffen eine Rettung — und
so konnte der Eintritt der Katastrophe nicht
zögern, der hier so vielen zur befreienden
Tat geworden ist. Billig entschloß sich zu
dem, was am Anfang und oben gesagt wor-
den ist aus einer tiefen Not seiner Seele,
um eine schnelle Rettung vor einem Heer
von Gespenstern zu finden.
In der Geschichte der Zeit spielt die be-
freiende Tat eine sehr absonderliche Rolle.
Billigs östhche Orientierung wurde hier zum
Verhängnis. Dabei halte ich die streng mete-
orologische Beobachtungsweise für die rich-
tigste. Tatsachen haben immer die Welt in
Atem gehalten, aber auf <jen Atem kommt es
an, hier sitzt, wie man sagt, der Kern. Es
könnte zum Beispiel jemand kommen und
sagen: ^i^Schope^^mer ^bi^i^^er
seiner Armmuskeln beschäftigt hätte. In-
rEel“~meirTt schon
der alte Philosoph, und ich glaube bei Zu-
stimmung aller können wir sagen: er hat
Recht damit.
Billig, dessen Persönlichkeit uns zur Ge-
schichte der Zeit so überaus wichtig er-
scheint, würde sich zu allem diesem un-
gefähr folgendermaßen geäußert haben:
Tempo, Tempo, meine Damen, hier treten
Sie ein, setzen Sie den Fuß in den Seelen-
verkäufer, lassen Sie den Wilden erst den
Tricot von der Haut ziehen, ehe Sie die
Lippen zum Kusse spitzen. Tempo, Tempo,
meine Damen und Herren — da walkt
man die Lichtreklamen durch den Leib des
Ortspfaffen, da steigt der große Mond aus
dem Rachen des Paralytikers, polternd und
schnurrend. Eilet, eilet, hebt die Beine, die
Herzen, feuert die Hosen an, knattert den
Motor der Weiberhemden los — verdammt,
seht, seht, das Lasso fliegt, das Leben ent-
steigt der Kloake, der Greis schüttelt die
Moosperücke — eilomen, eilomen — hier
sehen Sie Cyra, die schöne Bundesgenossin
in den Tänzen ihrer Heimat. Stimmung,
Stimmung. Leporello der Wahnsinnige —
Labero als Mann ohne Seele — der Mann
mit Seele — ach Du, Du Pope aller baju-
varischen Niederkünfte und Erzengel der
Verdrossenheit. Von den Pflöcken befreiten
sich längst die Hengste, den Lorbeerkranz
hing man im Rauchfang auf. Ja — ja, das
ist der Sinn des Lebens, das ist das unter-
irdische Grammophon. Azteken über Az-
teken, Lämmergeier über Lämmergeier. Ach,
ach, nein, nein — nun kommen Sie herein
meine Damen und Herren, legen Sie das
Herz in die Kopfbedeckung und lassen Sie
Ihre Zähne von diesem Hund bewachen, den
Ihnen die Gesellschaft zu Ihrer Verfügung
stellt.
Was wollen Sie von Sibirien? Sahen Sie
nicht Sibirien in der Eisenbahn, im Ziegen-
stall, auf blumiger Wiese, morgens, wenn
die erste Sonne den Primäraffekt bescheint?
Wie? Haben Sie kein Ehrgefühl? Generation
um Generation schickte die Kinder ins Kino,
und keiner hat es bis zum Geheimrat ge-
bracht. O — Scham und Flötenspiel —
Grauen hinter der Tapete. \^as gelten
lifl£4ßfrJ2Äril SyKosaken-
?fo?M#Pm Wink
meines Freundes^ PurzeX un<^ der Apparat
die
für
ein Unglück ist geschehen in dieser evange-
lischen Kirche? Eine Frau, meine Damen,
eine Mutter ihres Sohnes, ich packe Sie
bei Ihrem Mitleid, meine Damen, ein Sohn
ihrer Mutter, eine arme .Wäscherin, gerät
ins Unglück. Die phantastischen Teufel
fahren ihr aus dem Ohr heraus — Wahnsinn,
Wahnsinn, der helle Raubmord, Sibirien, Si-
birien sag ich, Sibirien, Knutenhiebe auf
das Gesäß, hei Gesäßhiebe auf die Knute
— was man nicht deklinieren kann, das sieht
man als ein Neutrum an — jawohl, immer
herein — Sibirien, Sibirien. Hier schreibt
der Maler Meidner seine Librettos mit einer
Pfauenfeder, hier sehen Sie den melioristi-
schen Tanzbär die Tonleiter seiner Be-
schränktheiten durchüben. Hier sehen Sie
die Düse, Agnes Sorel, und Minne haha in
friedlichem Verein, hier sehen Sie Becher,
das Genie von Berlin, und Däub'er, den
Übergewaltigen in lässiger Pose. Was ist
Sibirien, meine Damen und Herren? Bringe
die Lyra, Elfriede und reiße dem Papagei
eine Schwanzfeder aus. Meine Pupillen sind
verrenkt, von vielem Sehen überanstrengt,
man muß mir blaue Lünetten bringen, daß
7
ich lebe und wach bin; denn, ach allzulange
sah ich in die Eiswüsten und Mordfelder,
wo die Polarfüchse als Ampeln zwischen den
Sternen aufgehängt sind, wo der ekstatische
Pater als porphyrfarbener Gletscher aufragt,
wo von allem Gräßlichen ^)gesehen# da
Herz im Leibe vert?jpdl|et.
sind von mir dort^liMseicreffe
meiner Freundin Iren. Warum kann ich
mich nicht von ihr belügen lassen, warum
kann ich sie nicht pucelle nennen: Sibirien,
wie? — Na — antworten Sie doch, haben
Sie keine Zunge, keine Lunge — nein? Sind
Sie eine Puppe aus Ton, vielleicht nur Fik-
tion von sich selbst, ein Gedanke, der Fleisch
werden will. So manche Nachgeburt ist
einem über den Weg gelaufen. Ssst Emil,
eine Schale Gold — aus, sag ich aus, kein
Bild mehr, keine Laterne, kein japanischer
General.
Soll ich langsam wieder ich selbst werden
— soll ich die Mondsüchtigen aus meinen
Hirnschachteln vertreiben, das Fähnlein von
der Nase nehmen? VieUeicht kann man das
Unmögliche tun. Drei Jahre lang laeL man
unter den Dattelpalmen und .ließ sic
Prinzen von Theben auf der Nase Jjgr
tanzen. Heraus mit mm, heraus mn dem
Polkaprinzen, nieder mit den schreibenden
Weiblein. Wenn man die Augen aufmachte,
sah man die Burg mit der Sonnenzinne in
einer hellen Luft, die Leoparden sah man,
die Tiger und Zirkuselefanten. Da ward aus
Abend und Morgen der fünfte Tag. Das
Gebet wird von den Minaretten geleiert, die
Türen der Freudenhäuser sind auf, an allen
Schiffen werden die'Schattenwimpel hoch-
gezogen. Sieh, sieh, den dadaistischen Tanz
um den Löwen am Bürkliplatz. Sie haben
einen Löwen aus Papiermache gemacht —
der donnert gewaltig und läßt farbige Lichf-
raketeiiaus schien (^hren.gehen. IFi$e feine
Ad minist.........................
haben unsere Füße mit dem Fett der Ka-
daver eingerieben — eilomen, eilomen —
wir haben unsere Arme in das Blut der
Pygmäen getaucht. Wie lange wird dieser
Zustand dauern? Wie lange, frage ich, soll
man die Wolken auf seinen Fingern balän-
zieren? Nicht lange, meine Damen und
Herren, lassen Sie Ihr Herz noch eine Mi-
nute pulsieren, geben Sie der Lunge noch
einen Stoß nach vorn, lassen Sie diese Mu-
mie in ihrem Dauerschlaf — die Erlösung
naht, das Gepolter naht, der himmlische Ra-
dau beginnt. Legen Sie Ihre Hände auf
das kalte Eisen — wer weiß, wozu es gut
ist. Fragen Sie nicht — nein, nein — o nein;
ich höre Sie, wie Sie pfeifen, Levisohn,
stecken Sie-die Pfeife Jn die Hosentasche,
st kejn g|B#fäftföctres Unternehmen —
lSie,^m® icn nmh^^sagt, schon stehen
Sie unter Pari, und die Spatzen sitzen auf
ihrem Zylinderhut.
Der Drahtseilkünstler wurde vom Blitz-
schlag getroffen. Sein Schrei weckte uns
aus den besten Gedanken — wir dachten
an die Geburt der jungen Teufel, an die
Gründe des Meers und die Glut aller ent-
behrlichen Dinge — wir dachten an Wiesen
weit. Kuppelmond, Hufschlag und Hexen-
tanz. Wir dachten an den Mutterschrei der
Erde — Wolken Zinnobers um unser Ohr.
Ach, verwandt sind uns jene hageren Prie-
ster, die sich den Leib mit Ketten schlagen,
jene Harlekins über aller Welt, Seefahrer
und Entdeckungsreisenden der Seele. Stünd-
lich weckt uns der Schrei der Sterbenden
ie — wo — wo ist
xenfest, der Brocken
r|gbstrakten Phantasten,
chäftenv^ud, der Blauwald, der
einsam^fcj'änzer? Lautlos
en, lautlos
ie zu den
und die
Frömmigkeit der Maiennacht. O Pflanzen,
die ihr über die ersoffenen Hunde an den
Waldseen wuchert. Das Tal träumt. Im
Traum heben sich Städte, Städte lehnen sich
im Traum an Berge, zwinkern mit Augen
wie junge Mädchen. Ei — ei — sieh
Mensch, sieh Mensch, Zwillingsbruder knie
du, knie hin, lache den Mond an, bete die
Keuschheit an, streu Erde auf dein Flaar,
zeEteLße ctain Gewand. Nimm die ^ülle
de§H Herz, lfß -; die Stille i
tej^eni Die Dickleufel ln
glühenden Kopfe iiroer aen Brunnenr;
Drache und Fledermaus zerfasern die Luft.
Was ist mit der Luft, was ist mit dem Berg?
Fluß Ä^d Tgejtfluß, Mond \vir(|fBIiffifciond.
Versteht kind ‘flfljiyrÄrt&unMr- gfjjireie
Zwillra^mwJe% fc*$r und
ab -— ewiges hin und heft^Der himmlische
Klamauk beginnt, der coelestine Radau ist
los. Pluder, Pluder, Pluder! Drei Schritte
sind ein Schritt, Rückschritt und Fall. Kopf-
hoch heißt Kopfab, zauberhaft schnell.
Mondwald
drehen sie
und schreil
Sternen dr
10<br/><br/>R Hülsenbeck<br/><br/>0OKT°^<br/><br/>BiLLIG<br/><br/>End<br/><br/>E<br/><br/>Fragment<br/><br/>Daß die Angelegenheit sehr seltsam ist,<br/>fällt einem bald auf, mag man zu dem Leben<br/>stehen wie man will'. Es ist wahrscheinlich,<br/>daß du Beamter bist, 3000 Mark verdienst,<br/>eine Frau unterhalten mußt, mit ihr in Ehren<br/>drei Kinder (zwei Mädchen und einen Kna-<br/>ben) gezeugt hast und in politischer Hinsicht<br/>eine liberale Anschauung vertrittst. Es wird<br/>dir schwer, einen Augenblick den gewohn-<br/>ten Trott zu unterbrechen-------Deine Frau<br/><br/>droht schon mit allen Mitteln ihrer einge-<br/>fetteten Seele, die Kinder schreien (Papi,<br/>Papi), der Vorgesetzte schert sich den Teu-<br/>fel um deine intellektuellen Zustände —<br/>tausendmal magst du bereit sein, immer<br/>treibt die Angst dich wieder an — aber<br/>einmal, einmal kommt auch für dich, Ge-<br/>liebter, die Stunde, die du mit unberechtig-<br/>ter Sentimentalität deine Stunde nennen<br/>wirst: Du erkennst dies Leben und insbeson-<br/>dere dein Leben, als einen wüsten Taumel,<br/>eine Brutalität ohne Ende, als einen ewi-<br/>gen Kampf, sich und alles zu verschlech-<br/>tern. Und du bist nicht mal erstaunt, ord-<br/>nest sogleich eine Erkenntnis so wichtiger<br/>Art deinem bourgeoisen Glaubensbekennt-<br/>nis ein und hast schon wieder die Geste:<br/>wo bleibt mein Kaffee — oder jetzt laßt<br/>Vater in Ruhe, er muß die Zeitung lesen.<br/>Dein Gesicht glänzt, als hätte man es mit<br/>Lack abgerieben, und deine Hosen schlot-<br/>tern um deinen wohlgenährten Leichnam.<br/>Doch einmal noch, irgend wann, vielleicht,<br/>wenn du eine Flasche Piesporter oder<br/>Rauenthaler Kesselring getrunken hast,<br/>kommt dir die Erinnerung an jene Minuten,<br/>als du mehr vom1 Leben wußtest und sozu-<br/>sagen eine bebende Erkenntnis besaßt. Die<br/>Huren mit ihren hohen Beinen reizen dich<br/>plötzlich, ein weißes Haus wird ein weißes<br/>Tier, ein Pferd mit unerhörten Farben. Du<br/>fluchst, frißt und fluchst — das Leben hat<br/>dich wieder.<br/><br/>Dem Dr. Walter Billig ging es ähnlich, aber<br/>doch ganz anders. Es gehört schon eine<br/><br/>gewisse Intelligenz dazu, einen Ekel zu emp-<br/>finden, wenn man von den Leuten mit Herr<br/>Dr. angeredet wird. Die Wirtin tut es aus<br/>Berechnung, der Bettler aus Berechnung,<br/>die offiziellen Stellen aus Dummheit und<br/>die Leute aus Gleichgültigkeit. Jemand<br/>schreit auf der Straße: „Einen Augenblick,<br/>Herr Dr. !“ Billig dreht sich um. Er ist<br/>sehr nervös. Da ruft ein Lahmer einen Buck-<br/>ligen, Sie hassen das Leben und sind be-<br/>reit, mit ihren Krückstöcken alle Kinder<br/>der Straße zu töten. Aber der Titel hält<br/>sie hoch und der gute Wahnsinn findet in<br/>ihm ein Hindernis. Der Titel ist ihre Wol-<br/>lust und ihr Freudenhaus — er kürzt die<br/>Zeit und ersetzt die Frau. Billig, der sich<br/>durch sich selbst mit den Dingen beschäf-<br/>tigt, versteht alles und rast. Er rast durch<br/>die Straßen, findet in ihnen das nächste<br/>Objekt seiner Wut, stößt gegen die elektri-<br/>schen Straßenbahnen, stolpert vor den Pfer-<br/>den der hochbeladenen Omnibusse, landet<br/>endlich in der dritten Klasse der Untergrund,<br/>wo er erschöpft und wütend sitzen bleibt.<br/>Durch einen reinen Zufall kommt er in<br/>seine Wohnung, wo ihn die Wirtin mit ge-<br/>spreizten Beinen und hohnlachendem Ge-<br/>sicht empfängt. Er gleicht dem Mann bei<br/>Poe, dort wo einer atemlos nächtelang Lon-<br/>don durchkreuzt, sich mit verzerrtem' Ge-<br/>sicht, fast kotzend in die idiotische Menge<br/>stürzt, mit wütenderem Gesicht hochkommt,<br/>sich der Träume erinnert, wo man gezwun-<br/>gen war, mit stumpfem Arm gegen Giganten<br/>zu kämpfen, weiterrast, stolpert und brüllt.<br/>Die Wirtin, die immer Mutterstelle vertre-<br/>ten will, sagt: „Hören Sie, Doktorchen —<br/>Sie könnten ein vernünftigeres Leben füh-<br/>ren — teilen Sie sich Arbeit und Vergnügen<br/>richtig ein — ach nein, ein so junger Mann<br/>und so schläfrig.“ Billig hört nicht mehr.<br/>Er fühlt sich als Wäschefetischist und ist<br/>nur im Nebenberuf Syndicus der A. Y. K. Ca.<br/>Er stöberte in «dem großen Wäscheschrank,<br/>der die breiteste Wand seines Zimmers be-<br/>deckt — die Materialisation unglaublichster<br/>Geister, ein weißer Wald mit seltenen Schat-<br/>tenvögeln, eine Eisgrotte mit heiligen Feu-<br/>ern, aus denen der Vulkan brechen kann.<br/>„Was ist die Schale ohne die Frucht?“ sagt<br/>sich der Esel — „was ist die Hülle ohne<br/>das Weib?“<br/><br/>„Das kann alles sein,“ antwortet der be-<br/>seligte Dämmerzustand, — „das kann alles<br/>sein — insofern es die Phantasie heraus-<br/>
m a<br/>
12<br/><br/>fordert. Wie Aphrodite aus dem Schaum,<br/>steigt das Weib aus der Wäsche. Dieser<br/>Hauch ihres Leibes ist mehr als eine Geste<br/>ihrer Hand. Das zeigt mir die verflucht<br/>bewegten Landschaften, wo es keine starren<br/>Formen mehr gibt. Die Kleider schmiegen<br/>sich und die Falten singen.“ Die Ekstase<br/>des Dr. Billig dauerte eine Viertelstunde,<br/>dann warf er plötzlich seine Kleider ab<br/>und turnte eine Zeitlang nach Müllers Sy-<br/>stem. Er hatte die Fenster weitaufgesperrt,<br/>die Gärten standen in voller Blüte. Irgend-<br/>wo wurde ein Kind geprügelt und man<br/>hörte die keifende Stimme einer Frau. Die<br/>Wirtin klopfte, als Billig seine Reithosen<br/>anzog. Sie sagte: „Hören Sie mal, ein so<br/>junger Mensch und so schläfrig. — Sie soll-<br/>ten sich^ flj ah luftig ^besser ein-<br/><br/>zu schweigen. Diese Zwickmühle hätte die-<br/>sen und jenen zur Verzweiflung gebracht —<br/>aber Billig war ein heroischer Mensch. In<br/>der Küche fand er einen Abreißkalender,<br/>auf dem groß mit roten Buchstaben der<br/>Name Anny stand. Er besann sich auf Anny,<br/>die Tochter der Wirtin, und dachte .zugleich<br/>an Anny, die fünfjährige Stute, die heute<br/>Freund Callius in Hoppegarten laufen ließ.<br/>Das entschied plötzlich, der Plan war da.<br/>Auf der Straßenbahn traf er den Dr. Ohr-<br/>mann, der eben von seiner Hochzeitsreise<br/>zurückkehrte und strahlend von einer neuen<br/>Wohnung erzählte. Billig lächelte bösartig.<br/>Das verdutzte den anderen so, daß er<br/>schwieg und tief in die Falten seines Stra-<br/>ßenanzugs kroch. Billig traf auch die Ko-<br/>kotte Kitty, die seinerzeit den sprechenden<br/>Hund mitgestartet hatte und zuhause über<br/>ihrem Bett eine Urkunde bewundern ließ,<br/>die ihr die Achtung eines bedeutsamen Ko-<br/>mitees vermittelte, sie sei eine Züchterin<br/>erster Klasse. Billig lachte herzlich, wenn er<br/>an diese abenteuerliche Erscheinung dachte.<br/>Billig traf ferner den Oberkellner Mr. Wengs,<br/>der vor dem Kriege eine Seifenraffinerie jn<br/>Manchester besaß, eine Zeitlang in Ruhleben<br/>gesessen hatte und jetzt davon lebte, daß<br/>er Brotkarten unter der Hand verkaufte. Er<br/>wollte dem Billig, der sehr schnell vor-<br/>beiging, noch etwas in die Tasche stecken,<br/>um ihn zu verpflichten, aber es gelang ihm<br/>nicht. Der Zug nach dem Rennplatz jwar<br/>so stark besetzt, daß die Glieder und Köpfe<br/>der Menschen aus den Fenstern heraus-<br/><br/>quollen. Die Pfeifen schrien in dem großen<br/>Wellblechkasten. Eine Maschine ließ un-<br/>vermutet ihren ganzen Dampf ab, eine un-<br/>erhörte Badeanstalt breitete sich aus. Billig<br/>hörte deutlich das Plätschern der Schwim-<br/>menden, und einmal fiel ein schwerer Ge-<br/>genstand mit einem Knall aufs glatte Was-<br/>ser, daß die Leute ihr Entsetzen hinaus-<br/>schrien. Billig hatte einem dicken Weib<br/>einen Stoß 'vor den Magen zu geben, bis er<br/>nach langem Suchen einen Platz im' Pack-<br/>wagen fand. Es war dort anfangs sehr dun-<br/>kel, bald aber gewöhnten sich die Augen<br/>an das Licht. Ein unverschämter kleiner<br/>Junge mit einer Schülermütze pfiff ohne<br/>Unterbrechung: Haltet aus, haltet aus im<br/>Sturmgebraus — bis ihm endlich Billig, der<br/>dem Wahnsinn nahe war, einen Tritt ins<br/>Gesäß gab. Das Kind schrie, als wäre es<br/>unter die Möfder gefallen. Die Mutter hetzte<br/>die Menschen gegen Billig auf, er sei ein<br/>roher und ungebildeter Mensch. „Ja — da<br/>gehen sie mit der Miene eines studierten<br/>Mannes umher -^Tfrenn es aber darauf an-<br/>m sI^k€ÄiO[i^^I|pien Kin-<br/>leife^d*^ Ctow'ImI willst. Das<br/>Pfeifen kann keiner dem andern verbiete!<br/>Wenn es dep^^iäfSicl<br/>Herr ja den!<br/><br/>Ganz hinten<br/>ähnlichen Kiste gab es zwei Menschen, die<br/>Billigs Partei ergriffen. Es handelte sich<br/>um Lilly und Fritz, das geniale Tänzerpaar<br/>aus dem Wintergarten. Billig hütete sich<br/>aber, sich auf sie zu berufen; denn er<br/>wußte, daß sie jede Gelegenheit benutzen<br/>würden, um ihn anzupumpen. Die Luft<br/>wurde erstickend, ohne daß man etwas da-<br/>zu tun konnte. Man saß in einem1 Grabge-<br/>wölbe, das zuweilen von Fackeln erhellt<br/>wurde — Streichhölzer, mit denen man die<br/>Zigarren anzündete. Billig fand den Renn-<br/>platz ganz ausgezeichnet. Die grünen Rasen-<br/>plätze wußten ihn zu beruhigen — man<br/>betrachtete mit einer willkommenen Ermü-<br/>dung die Kleider der Frauen, die sich hier<br/>mit einer prätendierten Energie bewegten.<br/>Dann aber schellte es aus der Höhe, Billig<br/>suchte nach Takahaschi, dem Jokei des Dr.<br/>Callius. Takahaschi war ein Japaner von<br/>Geburt; d. h. seine Mutter konnte ihre Ber-<br/>liner Herkunft nicht verleugnen. Der Vater<br/>stammte vom Fuße des Fudshi — Takaha-<br/>schi selbst blieb als Klischee aller japani-<br/>schen Eigenarten bewunderungswürdig. Er<br/><br/>emer%!mkne oim mer sar^<br/>
... ),<br/><br/>13<br/><br/>stand mit übergeschlagenen Beinen, rauchte<br/>eine Maryland (Marylands wurden von Cal-<br/>lius mit einiger Lebensgefahr beschafft —<br/>aber man tat viel, um den Kleinen bei guter<br/>Laune zu erhalten) und lächelte, lächelte<br/>ein so verflucht malitiöses Lächeln, daß Bil-<br/>lig von allen Erinnerungen an die traditio-<br/>nellen Schlechtigkeiten der Japaner befallen<br/>wurde, schnell retirierte und verschwand.<br/>Von weitem hörte man noch den kleinen<br/>Affen lachen: Hihihi! „Es berührt dich selt-<br/>sam, Billig,“ sagte sich Billig, „wie feind-<br/>selig und vollgeladen mit Ekel und Wut<br/>alle diese<br/>kahaschi e_<br/>sali, und er hat oft von mir fünf Mark als<br/><br/>OJJipr war Ta-<br/>ilem Tatter-<br/><br/>eifie frate Hand auf* die S<br/><br/>mr nSpracSne<br/><br/><br/><br/>des Gesetzes“ — aber es war Callius, der<br/>sonnenüberströmt, mit einem knalligen<br/>Bouquet im! Knopfloch, mit fabelhaft grauen<br/>Hosen und einem grauen Zylinder, der auf<br/>allen Sportplätzen Old Englands Aufsehen<br/>erregt hatte, — auf Billig von hinten zu-<br/>kam. „Haben Sie Anny schon gesehen?“<br/>fragte er mit einer erstaunlichen Sicherheit.<br/>„Wie weltgewandt und fröhlich Sie sind,“<br/>sagte der olle ehrliche und sentimentale Bil-<br/>lig, der sich aller Qualen, Hindernisse und<br/>Geständnisse entsann, die ihn am Ende nach<br/>Hoppegarten geführt hatten. „Ich werde<br/>Ihnen Anny zeigen — Sie werden sehen, in<br/>welcher Form sie ist.“ Man trat in den<br/>Stall, in dem sich die Jungen am Boden<br/>und im Geschirr zu tun machten. Es<br/>herrschte hier eine Luft wie in einem Ge-<br/>wächshaus. An den schweren Bohlen qualm-<br/>ten Petroleumlampen. „Hier sehen Sie,“<br/>sagte Callius. Der Triumph brach in seiner<br/>Stimme aus und die Röte kroch von sei-<br/>nen Wangen um Schläfe und Haar. Das war<br/>in der Tat ein Pferd, wie man es selten<br/>sieht, ein Goldfuchs, an dem jeder Muskel<br/>gespannt war, mit einem' Hals, der in sei-<br/>ner Linie an den Stengel großer tropischer<br/>Blumen erinnerte, mit Fesseln, so fein und<br/>zierlich, wie an einem Nürnberger Kinder-<br/>spielzeug. Aber die Wut saß in den Augen<br/>und Nüstern. „Haben Sie mal gesehen,“<br/>fragte Callius, „wenn ein solches Tier an-<br/>fängt zu galoppieren? Es wirft den Hals<br/>gegen den Wind wie eine Leine, die Brust<br/>steigt wie ein Schiffsbug, den eine schwere<br/>Welle trifft. Es ist unerhört, mit welcher<br/><br/>Energie es den Kampf mit der Luft auf-<br/>nimmt. Mühelos geht alles vor sich, als<br/>sei dieser Aufwand nur ein Vorwand —<br/>vielleicht läuft er gar nicht, werden Sie den-<br/>ken, mein Lieber — vielleicht rattert die<br/>Erde unter ihm1 in entgegengesetzter Rich-<br/>tung. — Er tänzelt nur, um die Balance zu<br/>halten.“ Billig fand: Pferde sind den Men-<br/>schen viel ähnlicher als Affen — indem er<br/>an Takahaschi dachte. „Ja — o ja (Callius<br/>begeisterte sich wieder. Zerrte dabei an sei-<br/>nem französischen Spitzbart), man muß<br/>Pferde sterben gesehen haben. Es ist ähn-<br/>lich, wie wenn man den Wert eines Men-<br/>schen danach beurteilen kann, ob er sich<br/>gut bei seinem Tode benimmt. Pferde ster-<br/>ben wie wahre Helden — es ist außerordent-<br/>lich.“ Billig dachte an Schinder, Schlacht-<br/>haus und Pferdewurst. Die Stimmung war<br/>ihm plötzlich verdorben. Er erinnerte sich<br/>der Därme, die er in Madrid und Barcelona<br/>aus dem Baach fle» Pferde ahängea f>ah.<br/>Er hörte jhftjir sich einen leichten Schritt,<br/>undTra \rprobte, es ^erTÄcffÄscIfif faßte<br/><br/>Stirnifte ab^febefl wollt Die Luft<br/><br/>wurde aber in “edenklicher Weise schwe-<br/>rer — ein Gewitter begann sich auf der Haut<br/>zu entladen, ehe es seine elementaren Eigen-<br/>schaften sehen ließ. Der Geruch nahm plötz-<br/>lich überhand — ein Blumenduft, so inten-<br/>siv, daß man nicht mehr zweifeln konnte,<br/>eine Gärtnerei sei in der Nähe. Dann aber<br/>fühlte Billig, noch ehe er sich umdrehte, daß<br/>die ganze Kalkulation falsch gewesen sei.<br/>Ganze Philosophien und ihre Kombinationen<br/>stürzten zusammen. Es war eine Minute der<br/>angenehmsten Katastrophen. Man roch<br/>Haut, überdeckten Schweiß, Animalität jeder<br/>Art und parfümierte Wäsche. Es war zwei-<br/>fellos eine Frau in der Nähe. „Ah, Mar-<br/>got!“ schrie jetzt Callius, der seine Begei-<br/>sterung forcierte, „was für eine außerordent-<br/>liche und freudige Überraschung, daß du<br/>kommst, und daß du noch hier in den Stall<br/>kommst, um mich bei meiner Arbeit aufzu-<br/>suchen.“ Dabei faltete er sorgfältig die sanft<br/>violettgefärbten Handschuhe in seiner linken<br/>Hand. Er heftete die Brillantkrawattennadel<br/>tiefer und seine Finger strichen als Schatten<br/>über die stechend weiße Ebene des Hemdes.<br/>Margot lächelte die Zusammenkunft ein. Sie<br/>kommt und geht mit einem Lächeln, inaugu-<br/>riert Familienereignisse, gebiert und stirbt<br/>
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weiße Frau schüttet die Burg aus, doch
fange sie nicht. ElfenhanCf, Blumenkelch,
Lepra und Lungenschwund — ohe — ohe —
Krankenhaus, Leichenhaus. Aufgedunsene
her, Frühgestorbene her, Selbstmörder ran-
marschiert. Mund auf, Gong gerührt, Zeuge
sein, Märtyrer sein. Ach, Zwillingsbruder,
hör, hör, sieh nicht, sieh nicht, beiße die
Lippen fest, höre den Jammer von Zehn-
tausend Jahren. Alle starben sie für die
Gerechtigkeit, und der Teufel holte sie doch.
Alle starben sie für das Paradies, und die
Hölle fraß sie auf. Keine Erklärung für
solches Leid, nichts weiß man da. Ach
Macht, Zwillingsbruder, Macht. Schmeiße
den Zauberlehrling von seinem Stuhl — sieh
dieser Bankier hat den Kinderkreuzzug
gemacht. Dies Pferd ist unter ihm zu-
sammengebrochen, und mit diesen Büchsen
schießt er die Füchse tot. Warum schlägst
du ihm nicht die Zähne aus dem Kiefer,
schlitzt ihm nicht die Hose auf. Bist Du er?
Ist er Du? Seine Lippen sind blau, Brunst
hängt ihm am Bauch. Wo ist der Um-
stürzler, der ihn vor einem Marienbild auf
die Knie zwänge? Keiner ist da — niemand
hört zu. Nimm ihm wenigstens das Bier
weg, nimm, nimm, sage ich, bestehle ihn,
behure ihn, beschimpfe ihn — mein Gott,
was sag ich? bestehle ihn, beschimpfe ihn?
Heraus, heraus will ich aus dieser Hölle,
Luft, Luft — Gott sehn, Engel sehn, Bilder
sehn, Rosenkränze. Gehen wir schnell zu
dem alten Priester, der uns einsegnete — ein
lebender Mensch muß Erbarmen haben,
irgendwo muß sich die Tür öffnen. Eine
JUNG:
AMERIKANISCHE PARADE
Wind segelt Kurve. Freie Bahn — anschwel-
lend Ebenen, Häuser, ein Laternpfahl, Mo-
tor. Man achte auf den Rum — Tum —
Tiddle — Dance. Geist — flatternd — gei-
stert nicht mehr. Beine, Hosengurt, ver-
bündet sicherem Schuh, Hut in Diagonale,
lächelnd leicht licht. Kulis, Japaner als Schul-
meister setzen sich mit in Bewegung, mehr
verdrossen. Triumphiert Kaugummi, später
Havannah, später Whisky, dann zerhackter
Bombe darf ja platzen, rausschmeißen kann
er mich auch — wie? er ist nicht da?
warum? warum nicht? Fürchtet er für seine
Blößen? Warum ist kein ,Mensch da wenn
man ihn braucht? Warum ist kein Arzt da,
wenn die Seele ihn braucht? Sind alle Men-
schen Kurpfuscher, Harlekine, Hunde-
menschen? Du tust das, du tust jenes. Tu
mich, sag ich Dir— tu mich — Dein Zwil-
lingsbruder schreit ums Leben. Ich bin
Tischler und habe kein Holz, ich bin
Schmied und habe kein Eisen. Habe Er-
barmen mit mir, Du Mitmensch. Rüttle an
deinem Bauch, schüttle deine Taschen aus.
Ihr Lumpenhunde und Assmücken, ihr
Seelenverkäufer und Henker — werft euere
Kinder hinter euch, sie sind zu nichts nütze.
Reißt euch die Augen aus dem Kopf, sie
haben falsch gesehen. Wozu das alles, wozu
diese Geschwätzigkeit, wozu das Interesse
an schönen Dingen? Ihr Bibliophilen und
Literaturkrämer, ihr Drahtpuppen, Referen-
dare und Medizinkandidaten — ihr Rechts-
anwälte des Unrechts, ihr gesammten Ver-
dreher des Daseins — he, he — heraus aus
eueren Löchern ihr Igel ,und Feldmäuse, man
hat die große Trompete an die Lippen ge-
setzt, die Pauke wird geschlagen und die
Sträflinge sind lös. Das jst der Tag des
ewigen Gerichts. Lux tenebris lucet — der
Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Ja, ja, da schlagt ihr euere Knochen zu-
sammen — da pfeift ihr auf eueren hohlen
Zähnen — eilomen, eilomen — die Zeit ist
erfüllt — das Gewitter brach aus.
Knäuel quetscht sich die Philosophie, die
Methode des Lebens, die Religion, sofern
man das schwankende Ichgefühl in Kontakt
dazu bringt, und die so benannten großen
Gesten, wie Gebet, Revolution und Sing-
sang. Liebe ist das Gebet der Menschen
zu- und miteinander — es liegt mir daran,
allgemein verständlich zu bleiben.
Trotzdem handelt es sich um das Unglück.
Ich will, daß das Unglück marschiert. Merry-
0
Makers T^nz. Ich selbst bin unglücklich
(will sein). Wenn auch nicht vollkommen
— etwas derartiges hier zu schreiben ist
schon Pech. Man weiß, daß ich mich da-
gegen wende. Das Unglück wird alle Dämme
niederreißen. Gott Unglück — ich bewege
mich in Kindheitserinnerung. Das Unglück,
das sich aufbäumt gegen das Licht.
Das Unglück, das Glieder und Gedärme
frißt. Das Unglück — Leid ist nur eine
schwache Vorahnung. Schmerz wie Ab-
sinth, Cocain, Malaria und Guillotine wäh-
rend der großen Revolution — das Unglück
ist sozusagen fabelhaft erstklassig und hält
durch. Unglück gegen Glück — keine Frage.
Eine Frau vergräbt ihr Kind, das sich an
sie anklammern will, ein Mann, von Liebe
umlagert, zerbeißt eine Dynamitpatrone,
nicht mehr mithalten zu können im verant-
wortlichen Rhythmus des Sichsehnens, wie
das Kind, das sich noch anklammern will,
mit einem Wort: das Erleben, das ist Un-
glück.
Gut geschrien. Die Pechfritzen, Weltver-
besserer, Sexualitäter paffen die Gesetzes-
wolken. Immer neues Pech. Die Pechia-
ter sind Hans im Glück. Zwischen Pech
und Glück liegt die Stellung zur Ordnung,
die für jeden Einzelnen so tausendfältig dif-
ferenzierte, so daß jeder gleich 10 Stellun-
gen in einer dazu aufbringt. Aus diesem
Chorgesang um die Gnade des Herrn, dann
Scheck. Rrum — Tum. Massen! Massen
— — Es genügt nicht, den Japaner zu ver-
achten, ehemals zu belächeln, gegenwärtig
zu fürchten. Unterkriegen, gelber werden.
Randlaken und in Spannung halten.
Dabei wird der Einzelne jünger. Jung, Franz
Jung. Demokratie gleich Freibier.
Wer abfällt, fällt ab. Die Sekten werden
schärfer.
Es wird ein verfluchter Schwindel' damit
getrieben, daß irgend etwas gehemmt sein
soll, wo nur aufgeräumt wird. Es fehlt das
Konsortium dafür, die Abgestempelten. Es
regieri noch das Gesetz — man könnte
eine Tirade dranhängen: über Hoch und
Niedrig lastend und lockend zu sanfter Ruh,
geschmäht, gefürchtet und in bitteren Zwei-
felstränen ersehnt aus dem Besten des Men-
schen zum Besten, das Gesetzglück, dem1
der Widerspruch (auf dem Marsch) noch
nicht genügend Balance zu halten gelernt
hat — das Unglück. Ich bitte um Ver-
zeihung: Unglück ist mehr wie Glück —
obwohl das schon in der Bibel steht. Aber
ich1 meine nicht das Pech. Die Leute, die
heute jammern, haben Pech. Pech heißt:
das Gesetz über dir.
Sich erleben, das Glück — Pech erleben,
das Unglück erleben. Erleben erleben —
Weil wer Hilfe schreit — vielleicht noch
nicht einmal der Autor — weil wer noch
irgendwo zappelt, das Blatt Papier, der Ge-
danke, die Masse biegt um die Ecke —
Alexanders Ragtimes band — die Partei, der
Autor. Darum wird die Zertrümmerung
unseres Seins dennoch marschieren.
Das Unterkriegen, in fremden Spannungen
fixiert.
Der Pfiff!!
Von diesem Prospekt sind 50 Exemplare mit
der Signatur der Herausgeber versehen worden
und zum Preise von 5 Mark pro Exemplar
erhältlich.
10 signierte Exemplare denen ein handge-
schriebenes Gedicht von Richard Huelsenbeek
beiliegt werden zum Preise von 10 Mark pro
Exemplar verkauft.
Bestellungen sind zu richten an R. Huelsenbeek
Charlottenburg Kantstrasse 118 III.
14<br/><br/>am Ende. Ein Lächeln besagt nichts und for-<br/>dert zur Stellungnahme auf — es bleibt<br/>die beste Qeste eines gewandten Geschäfts-<br/>manns. Das Lächeln setzt uns in eine pein-<br/>Ve riefen heit — mela%:holisch sind wir<br/><br/>aufzunehmen. ^Margot lächelte und Billig<br/>wurde weich, so weich, daß er begann:<br/>„Gnädige Frau...“<br/><br/>Das war die frühere Geliebte des Dr. Cal-<br/>lius, eine Ausländerin aus dem Monico mit<br/>allen Allüren einer eleganten, internationalen<br/>Kokotte. Bei Kriegsausbruch heiratete sie,<br/>um allen Schwierigkeiten aus dem Wege zu<br/>gehen, den Elsässer Burmeester, der im<br/>Lederhandel mit außerordentlichem1 Glück<br/>geschoben hatte. Nun war er in der Schweiz,<br/>wo er mit Frauen Tausende durchzubringen<br/>verstand — eine Type, die in der Geschichte<br/>der Zeit mit einem Stern figuriert. Häufig<br/>schickte er die Speisekarten vom Baur au<br/>Lac aus Zürich, von Huguenin, die Va-<br/>rieteprogramme aus Genf und Lausanne.<br/>Margot nahm ihre Sprache mit einer Selbst-<br/>verständlichkeit auf, die jede Widerrede aus-<br/>zuschließen verstand. Hier gab es kein drit-<br/>tes Kriegsjahr, vielmehr eine Jugend von<br/>neuer Eleganz, von Wohlleben, von Reich-<br/>tum des Körpers und des Geistes. Die Gra-<br/>naten, die die Schädel zerfetzen, sind die<br/>Gründer dieser Kultur. Sie sind zu loben.<br/>Sie bereichern die Buntheit. Burmeester trug<br/>einen spitzen Bürgerbauch, um den man<br/>eine Krawatte hätte binden können. Haar-<br/>scharf entging er dem bekannten homeri-<br/>schen Gelächter. Margot konnte nicht mit<br/>ihm ausgehen: da war noch ein blonder,<br/>sehr fader Schnurrbart, der eben aus dem<br/>Bierschaum getaucht zu sein schien, die In-<br/>karnation aller Seelen sächsischer Schulmei-<br/>ster. Der Mann gröhlte, wenn er erregt war,<br/>schwitzte bei Hitze in erschreckender Weise<br/>und hatte die peinliche Angewohnheit, sich<br/>mit einem Taschentuch den Hals abzutrock-<br/>nen. Callius stand neben ihm als ein Jüng-<br/>ling mit den ätherischen Allüren einer glän-<br/>zenden Kinderstube. Seine Eleganz war aus-<br/>gesucht, und er schwitzte auch nicht — er<br/>gehörte ein für allemal zu den Menschen,<br/>die sich das Schwitzen abgewöhnt haben.<br/>Callius besaß noch drei Zimmer mit einer<br/>unerhörten englischen Garderobe aus Frie-<br/>denszeiten. Seine Hutsammlung lockte die<br/>erfahrensten Kenner an — er hatte einhun-<br/><br/>dertdreiundsechzig Stöcke, wie Ernest de la<br/>Jeunesse. Aber Margot lächelte über ihn.<br/>Sie behandelte ihn wie einen Lakaien, und<br/>er schien sich dabei wohlzufühlen. Sie war<br/>fast einen Kopf größer als der olle, senti-<br/>mentale Dr. Billig, und handelte danach. Bil-<br/>lig entsann sich einer Kokotte im Folies-<br/>Bergere, einer Riesenperson im weißen<br/>Atlaskleid, die bei schlechter Laune wie eine<br/>antike Domina die Männer mit nackten Ar-<br/>men erdrücken konnte. Wenn Takahaschi<br/>sich ganzgausstrecktcyreichte eg ungefähr bis<br/>zu d e iuriän z£nÄ ve iße1 d iüfteifr®)jöti,e r aus<br/><br/>gmg S14I ®&^OBi^G#®,mia§^unver-<br/><br/>sehends über die Gesichter der Erstaunten<br/>fiel und sie eine Zeitlang in einen außeror-<br/>dentlichen Zustand der Erstarrung setzte.<br/>Margot lächelte. Billig sah die asiatische<br/>Linie dieses Lächelns, sah losgelöste, pri-<br/>mitivste Instinkte, fand sich an Gefühle er-<br/>innert, deren höchste Steigerung die Sensa-<br/>tion des Mordes sei. „Wie außerordentlich<br/>lächerlich,“ sagte sich Billig, „wie trottel-<br/>haft meinerseits.“ Takahaschi kam und bat<br/>um eine Zigarette. Er pfiff und schnarrte<br/>mit heller Stimme.<br/><br/>„Wollen Sie noch Pferde sehen?“ fragte<br/>Margot. Billig nickte — es war ihm gleich-<br/>gültig, wo er mit ihr hingehen durfte. Sie<br/>hatte den Vorzug, ihn an seine Reisen zu<br/>erinnern, ihm Geschichten ins Gedächtnis<br/>zurückzurufen, die er mit Sorgfalt als phan-<br/>tastische Eskapaden in seiner Gehirnkam-<br/>mer bewahrte. „Billig, mehr oder weniger<br/>Beamter — Billig, ein Bürger,“ sagte sich<br/>Billig. Er hatte mit geballten Fäusten auf<br/>seinem Bett gelegen, fast geweint im' Gedan-<br/>ken an Angelina, die außerordentliche Ko-<br/>kotte von Venedig. Er war ohne jeden eige-<br/>nen Willen, ohne jede Wut, den Grenzen<br/>seiner Individualität nachzujagen. Er lebte<br/>die Tage zwischen Gespenstern hin. Da<br/>kam die Hochbusige aus Madrid: Yo Fadoro<br/>mio bondo. In Barcelona war ihm Margue-<br/>rite unter dem Arm erschossen worden,<br/>während er mit spitzem Löffel Sorbet aß.<br/>Ach — oder die Überfahrt nach Afrika in<br/>Erwartung der farbigen Hitze — an der<br/>Seite jener Mulattin, mit der sich aus vie-<br/>len Gründen im Cafe de Dome nicht um-<br/>gehen ließ. , Die verkrüppelten Pflanzen<br/>wuchsen ihm zwischen den Fingern durch<br/>aus dem öden Holzfußboden seines Zim-<br/>mers, aus dem Toiletteeimer roch er den<br/>Sumpfgeruch der Mangrovewälder. Billig<br/>
iS<br/><br/>fluchte: Dies Weib war die Konzentration<br/>aller fabelhaften Erlebnisse, die Verwirkli-<br/>chung aller Sehnsüchte des ruhelosen Bür-<br/>gers. Margot lächelte. Sie nahm Takahaschi<br/>mit starken Armen auf und setzte ihn auf<br/>ein Pferd. „Kommen Sie, Billig, ich will<br/>Ihnen andere Pferde zeigen.“ Auf einem ab-<br/>gegrenzten Rasenplatz wurden Pferde von<br/>kleinen Burschen herumgeführt. „Sehen Sie,<br/>Billig — sie sagte nicht etwa ah, que c’est<br/>joli! — sagte Margot mit ihrer sehr tiefen<br/>und sonoren Stimme, „ich komme hier nur<br/>hin, um Pferde zu sehen — das Wetten lang-<br/>weilt mich. Nach Schweiß und Angst im<br/>besten Falle einige Hundert Mark gewin-<br/>nen, ist ein Vergnügen für Plebejer.“ Cal-<br/>iius drückte sich herum, um sich bemerk-<br/>bar zu machen, Margot sprach aber weiter,<br/>ohne ihn anzusehen. „Sie mögen es mir<br/>glauben oder nicht — ich liebe nur Pferde<br/>und Bücher. Pferd erinnert mich an Flucht,<br/>siebzehntes Jahrhundert, Eleganz jeder Art.<br/>O — sehen Sie diese Muskeln — ich sah<br/>einen Boxkampf im Cirque in Paris — ich<br/>liebe diese Boxkämpfe, wenn das Blut fließt<br/>— die Plätze sind außerordentlich teuer,<br/>wie Sie wissen, und man ist ganz unter sich<br/>aber, mon dieu, ein Pferd ist ein ruhiges,<br/>erhabenes Schauspiel, ein vollendetes Kunst-<br/>werk, ein exzellenter Genuß.“ Callius räus-<br/>)erte sich: im Moment wurde Anny vor-<br/>pgjeführt. Takahaschi lief mit ^krummen<br/>Tn40^t®h^.(CNoch das ®tf<br/>Emu Anhy ;^pSj|l<br/><br/>tlliüs JffanzU bedeutsam/-;,VOira;“ sagte<br/>Margot, die jemand in der Menge bemerkt<br/>hatte. In dem Gewimmel sah man die brei-<br/>ten, enttäuschten Gesichter der Bürger-<br/>frauen, die .„sich auch einmal ein Vergnü-<br/>gen geleistet hatten“ — aber während der<br/>ganzen Zeit den Gedanken an den Eintritts-<br/>preis nicht loswerden konnten. Die Gestalt<br/>des Schiebers in allen Variationen — der Ge-<br/>heimpolizist — auf hundert Meter erkenn-<br/>bar — mit dem forciert protestantischen<br/>Rentiergesidit, mit dem ungewickelten Re-<br/>genschirm. Der Sohn des Volksschullehrers,<br/>der Gelegenheit hatte, in Offiziers uniform<br/>seine Kriegskreuze spazieren zu führen. —<br/>Billig sah betäubt in dem weiten Wirrwarr<br/>den Hut Margots verschwinden. „Mein<br/>Gott,“ sagte er sich, „was soll ich hier ohne<br/>sie?“ Callius sah Billigs Blick auf die<br/>Menge. Einer jener Flachköpfe, die aus der<br/>geringsten Gefühlsäußerung Worte machen<br/><br/>können, sagte er: „Es ist erstaunlich, diese<br/>Kriegsexistenzen — wer das beschreiben<br/>könnte; die bekannten Bedingungen der Ge-<br/>sellschaft sind aufgehoben, die Bestie tri-<br/>umphiert.“ „Sie schreiben ja wohl,“ sagte<br/>Billig aus Höflichkeit, fortwährend mit Mar-<br/>got beschäftigt, von der er zeitweise einen<br/>weißen Schimmer sah. „Oh, Sie belieben<br/>zu scherzen, mein Lieber,“ sagte Callius,<br/>„ich dachte, Talent zu haben — aber wenn<br/>man Gelegenheit hatte, unsere Großen zu<br/>lesen und zu verstehen. Wirklich — was<br/>meinen Sie?“ Billig wurde unruhiger und<br/>unruhiger. „Sagen Sie doch nur, Callius<br/>— wer ist diese außerordentliche Frau?“<br/>Callius begann von einer Liebschaft zu re-<br/>nommieren, er habe mit ihr ein halbes Jahr<br/>in der Schweiz gelebt — er sprach sogar<br/>von ihren Schenkeln, indem er mit der Pose<br/>eines internationalen Wüstlings durch die<br/>Zähne pfiff. „Wo haben Sie sie getroffen?“<br/>„Sie spielte in einem Variete — nannte sich<br/>Bodin — Melitta Bodin — ach, sie hat ein<br/>seltsames Schicksal gehabt -r- ich würde es<br/>Ihnen gern erzählen, wenn nicht die Pflich-<br/>ten der Diskretion — Sie können sich den-<br/>ken, daß man einer Frau gegenüber, die sich<br/>einem ganz hingegeben hat, seine Verpflich-<br/>tungen hat.“ Billig schüttelte sich vor Ekel,<br/>er sah, daß seine Glacehandschuhe geplatzt<br/>waren, und riß si^nwa über die ganze Hand<br/><br/>eavajti<br/><br/>CTofs^zTÜ" Ifetilflihrie eil<br/><br/>xvm qeognifiqe eines[ c^tjiaue^s^ gef^tme,<br/><br/>scnwarze wogen mit Hüten, Schirmen^<br/>dumpfem' Geschrei stießen nach vorn —<br/>jetzt fiel ein Wind zwischen die Bäume, so<br/>daß die Zweige tief niedergebogen wurden<br/>und an dem Buffet die weißen Decken flat-<br/>terten. Die Schelle schlug wieder an, dies-<br/>mal kurz, bedeutungsvoll. „Start!“ sagte<br/>Callius, „jetzt noch zehn Minuten, und sie<br/>werden Anny laufen sehen.“ Er zog Billig<br/>in eine Ecke und wurde sentimental. „Hö-<br/>ren Sie,“ .sagte er, „an diesem Pferd hängt<br/>meine Existenz und die Existenz meiner<br/>Familie. Ich beschwöre Sie — wetten Sie<br/>dreimal Hundert Sieg auf Anny — Sie ma-<br/>chen ein gutes Geschäft und einem Freund<br/>helfen Sie aus einer Verlegenheit. Da Billig<br/>sich keine Mühe gab, aufmerksam zu sein<br/>und mit langem Hals nach Margot aussah,<br/>fuhr er fort: „Mein Gott — morden Sie<br/>mich nicht — haben Sie einen Augenblick<br/>Sinn für ein menschliches Schicksal.“<br/>
ö/e Was will<br/>4*% man?<br/><br/>Was kann man?<br/><br/>Zeichnungen von<br/>Georges Grosz<br/>Subskriptionspreis<br/><br/>10 Mark<br/><br/>Achten Sie<br/><br/>auf Ihre Gesundheit!<br/><br/>Zu spät<br/><br/>kaufen Sie den<br/><br/>Sprung<br/>aus<br/><br/>der Welt!!!<br/><br/><br/><br/>r4<br/><br/>1<br/><br/>4<br/><br/>1 1 1 f f t 1 1 1 1 1 1 1<br/><br/>Großer Propagandaabend Ende Mai<br/><br/>Simultanistisches Gedicht (6 Mitwirkende) Bruiti-<br/>stische Musik KUblStlSCll6 Tänze (10 Damen)<br/><br/>Bestellungen und Anfragen sind zu richten an:<br/><br/>R. Hülsenbeck Charlottenburg Kantstraße 118111-<br/><br/>Druck voa P. E. H«»g, Mell« i. H.<br/>
10
R Hülsenbeck
0OKT°R
1 billig
Fragment
Daß die Angelegenheit sehr seltsam ist,
fällt einem bald auf, mag man zu dem Leben
stehen wie man will. Es ist wahrscheinlich,
daß du Beamter bist, 3000 Mark verdienst,
eine Frau unterhalten mußt, mit ihr in Ehren
drei Kinder (zwei Mädchen und einen Kna-
ben) gezeugt hast und in politischer Hinsicht
eine liberale Anschauung vertrittst. Es wird
dir schwer, einen Augenblick den gewohn-
ten Trott zu unterbrechen — — Deine Frau
droht schon mit allen Mitteln ihrer einge-
fetteten Seele, die Kinder schreien (Papi,
Papi), der Vorgesetzte schert sich den Teu-
fel um deine intellektuellen Zustände —
tausendmal magst du bereit sein, immer
treibt die Angst dich wieder an — aber
einmal, einmal kommt auch für dich, Ge-
liebter, die Stunde, die du mit unberechtig-
ter Sentimentalität deine Stunde nennen
wirst: Du erkennst dies Leben und insbeson-
dere dein Leben, als einen wüsten Taumel,
eine Brutalität ohne Ende, als einen ewi-
gen Kampf, sich und alles zu verschlech-
tern. Und du bist nicht mal erstaunt, ord-
nest sogleich eine Erkenntnis so wichtiger
Art deinem bourgeoisen Glaubensbekennt-
nis ein und hast schon wieder die Geste:
wo bleibt mein Kaffee — oder jetzt laßt
Vater in Ruhe, er muß die Zeitung lesen.
Dein Gesicht glänzt, als hätte man es mit
Lack abgerieben, und deine Hosen schlot-
tern um deinen wohlgenährten Leichnam.
Doch einmal noch, irgend wann, vielleicht,
wenn du eine Flasche Piesporter oder
Rauenthaler Kesselring getrunken hast,
komm! dir die Erinnerung an jene Minuten,
als du mehr vom Leben wußtest und sozu-
sagen eine bebende Erkenntnis besaßt. Die
Huren mit ihren hohen Beinen reizen dich
plötzlich, ein weißes Haus wird ein weißes
Tier, ein Pferd mit unerhörten Farben. Du
fluchst, frißt und fluchst — das Leben hat
dich wieder.
Dem Dr. Walter Billig ging es ähnlich, aber
doch ganz anders. Es gehört schon eine
gewisse Intelligenz dazu, einen Ekel zu emp-
finden, wenn man von den Leuten mit Herr
Dr. angeredet wird. Die Wirtin tut es aus
Berechnung, der Bettler aus Berechnung,
die offiziellen Stellen aus Dummheit und
die Leute aus Gleichgültigkeit. Jemand
schreit auf der Straße: „Einen Augenblick,
Herr Dr.!“ Billig dreht sich um. Er ist
sehr nervös. Da ruft ein Lahmer einen Buck-
ligen, Sie hassen das Leben und sind be-
reit, mit ihren Krückstöcken alle Kinder
der Straße zu töten. Aber der Titel hält
sie hoch und der gute Wahnsinn findet in
ihm ein Hindernis. Der Titel ist ihre Wol-
lust und ihr Freudenhaus — er kürzt die
Zeit und ersetzt die Frau. Billig, der sich
durch sich selbst mit den Dingen beschäf-
tigt, versteht alles und rast. Er rast durch
die Straßen, findet in ihnen das nächste
Objekt seiner Wut, stößt gegen die elektri-
schen Straßenbahnen, stolpert vor den Pfer-
den der hochbeladenen Omnibusse, landet
endlich in der dritten Klasse der Untergrund,
wo er erschöpft und wütend sitzen bleibt.
Durch einen reinen Zufall kommt er in
seine Wohnung, wo ihn die Wirtin mit ge-
spreizten Beinen und hohnlachendem Ge-
sicht empfängt. Er gleicht dem Mann bei
Poe, dort wo einer atemlos nächtelang Lon-
don durchkreuzt, sich mit verzerrtem Ge-
sicht, fast kotzend in die idiotische Menge
stürzt, mit wütenderem Gesicht hochkommt,
sich der Träume erinnert, wo man gezwun-
gen war, mit stumpfem Arm gegen Giganten
zu kämpfen, weiterrast, stolpert und brüllt.
Die Wirtin, die immer Mutterstelle vertre-
ten will, sagt: „Hören Sie, Dokforchen —
Sie könnten ein vernünftigeres Leben füh-
ren — teilen Sie sich Arbeit und Vergnügen
richtig ein — ach nein, ein so junger Mann
und so schläfrig.“ Billig hört nicht mehr.
Er fühlt sich als Wäschefetischist und ist
nur im Nebenberuf Syndicus der A. Y. K. Ca.
Er stöberte in dem großen Wäscheschrank,
der die breiteste Wand seines Zimmers be-
deckt — die Materialisation unglaublichster
Geister, ein weißer Wald mit seltenen Schat-
tenvögeln, eine Eisgrotte mit heiligen Feu-
ern, aus denen der Vulkan brechen kann.
„Was ist die Schale ohne die Frucht?“ sagt
sich der Esel — „was ist die Hülle ohne
das Weib?“
„Das kann alles sein,“ antwortet der be-
seligte Dämmerzustand, — „das kann alles
sein — insofern es die Phantasie heraus-
12
fordert. Wie Aphrodite aus dem Schaum,
steigt das Weib aus der Wäsche. Dieser
Hauch ihres Leibes ist mehr als eine Geste
ihrer Hand. Das zeigt mir die verflucht
bewegten Landschaften, wo es keine starren
Formen mehr gibt. Die Kleider schmiegen
sich und die Falten singen.“ Die Ekstase
des Dr. Billig dauerte eine Viertelstunde,
dann warf er plötzlich seine Kleider ab
und turnte eine Zeitlang nach Müllers Sy-
stem. Er hatte die Fenster weitaufgesperrt,
die Gärten standen in voller Blüte. Irgend-
wo wurde ein Kind geprügelt und man
hörte die keifende Stimme einer Frau. Die
Wirtin klopfte, als Billig seine Reithosen
anzog. Sie sagte: „Hören Sie mal, ein so
junger Mensch und so schläfrig. — Sie soll-
ten sichn^^.^^)®» wahi^f^^msser ein-
zu schweigen. Diese Zwickmühle hätte die-
sen und jenen zur Verzweiflung gebracht —
aber Billig war ein heroischer Mensch. In
der Küche fand er einen Abreißkalender,
auf dem groß mit roten Buchstaben der
Name Anny stand. Er besann sich auf Anny,
die Tochter der Wirtin, und dachte .zugleich
an Anny, die fünfjährige Stute, die heute
Freund Callius in Hoppegarten laufen ließ.
Das entschied plötzlich, der Plan war da.
Auf der Straßenbahn traf er den Dr. Ohr-
mann, der eben von seiner Hochzeitsreise
zurückkehrte und strahlend von einer neuen
Wohnung erzählte. Billig lächelte bösartig.
Das verdutzte den anderen so, daß er
schwieg und tief in die Falten seines Stra-
ßenanzugs kroch. Billig traf auch die Ko-
kotte Kitty, die seinerzeit den sprechenden
Hund mitgestartet hatte und zuhause über
ihrem Bett eine Urkunde bewundern ließ,
die ihr die Achtung eines bedeutsamen Ko-
mitees vermittelte, sie sei eine Züchterin
erster Klasse. Billig lachte herzlich, wenn er
an diese abenteuerliche Erscheinung dachte.
Billig traf ferner den Oberkellner Mr. Wengs,
der vor dem Kriege eine Seifenraffinerie (in
Manchester besaß, eine Zeitlang in Ruhleben
gesessen hatte und jetzt davon lebte, daß
er Brotkarten unter der Hand verkaufte. Er
wollte dem Billig, der sehr schnell vor-
beiging, noch etwas in die Tasche stecken,
um ihn zu verpflichten, aber es gelang ihm'
nicht. Der Zug nach dem Rennplatz ;war
so stark besetzt, daß die Glieder und Köpfe
der Menschen aus den Fenstern heraus-
quollen. Die Pfeifen schrien in dem großen
Wellblechkasten. Eine Maschine ließ un-
vermutet ihren ganzen Dampf ab, eine un-
erhörte Badeanstalt breitete sich aus. Billig
hörte deutlich das Plätschern der Schwim-
menden, und einmal fiel ein schwerer Ge-
genstand mit einem Knall aufs glatte Was-
ser, daß die Leute ihr Entsetzen hinaus-
schrien. Billig hatte einem dicken Weib
einen Stoß vor den Magen zu geben, bis er
nach langem Suchen einen Platz im' Pack-
wagen fand. Es war dort anfangs sehr dun-
kel, bald aber gewöhnten sich die Augen
an das Licht. Ein unverschämter kleiner
Junge mit einer Schülermütze pfiff ohne
Unterbrechung: Haltet aus, haltet aus im
Sturmgebraus — bis ihm endlich Billig, der
dem Wahnsinn nahe war, einen Tritt ins
Gesäß gab. Das Kind schrie, als wäre es
unter die Möfder gefallen. Die Mutter hetzte
die Menschen gegen Billig auf, er sei ein
roher und ungebildeter Mensch. „Ja — da
gehen sie mit der Miene eines studierten
Mannes umher -^Tfrenn es aber darauf an-
;n si^teCliO|i|H?I|jyien Kin-
leife^d*^ CHrwidÄ willst. Das
Pfeifen kann keiner dem andern verbietei
Wenn es deuLJlAgpfr
Herr ja den Wagen jv^%sjpi/
Ganz hinten amemeroanOieDen einer sarg-
ähnlichen Kiste gab es zwei Menschen, die
Billigs Partei ergriffen. Es handelte sich
um Lilly und Fritz, das geniale Tänzerpaar
aus dem Wintergarten. Billig hütete sich
aber, sich auf sie zu berufen; denn er
wußte, daß sie jede Gelegenheit benutzen
würden, um ihn anzupumpen. Die Luft
wurde erstickend, ohne daß man etwas da-
zu tun konnte. Man saß in einem1 Grabge-
wölbe, das zuweilen von Fackeln erhellt
wurde — Streichhölzer, mit denen man die
Zigarren anzündete. Billig fand den Renn-
platz ganz ausgezeichnet. Die grünen Rasen-
plätze wußten ihn zu beruhigen — man
betrachtete mit einer willkommenen Ermü-
dung die Kleider der Frauen, die sich hier
mit einer prätendierten Energie bewegten.
Dann aber schellte es aus der Höhe, Billig
suchte nach Takahaschi, dem Jokei des Dr.
Callius. Takahaschi war ein Japaner von
Geburt; d. h. seine Mutter konnte ihre Ber-
liner Herkunft nicht verleugnen. Der Vater
stammte vom Fuße des Fudshi — Takaha-
schi selbst blieb als Klischee aller japani-
schen Eigenarten bewunderungswürdig. Er
f
)
stand mit übergeschlagenen Beinen, rauchte
eine Maryland (Marylands wurden von Cal-
lius mit einiger Lebensgefahr beschafft —
aber man tat viel, um den Kleinen bei guter
Laune zu erhalten) und lächelte, lächelte
ein so verflucht malitiöses Lächeln, daß Bil-
lig von allen Erinnerungen an die traditio-
nellen Schlechtigkeiten der Japaner befallen
wurde, schnell retirierte und verschwand.
Von weitem hörte man noch den kleinen
Affen lachen: Hihihi! „Es berührt dich selt-
sam, Billig,“ sagte sich Billig, „wie feind-
selig und vollgeladen mit Ekel und Wut
alle diese
kahaschi e_
sali, und er hat oft von mir fünf Mark als
OJJipr war Ta-
ilem Tatter-
eifie frate Hand auf* die S<
tflsr n&pracäk
Lite
des Gesetzes“ — aber es war Callius, der
sonnenüberströmt, mit einem knalligen
Bouquet im! Knopfloch, mit fabelhaft grauen
Hosen und einem grauen Zylinder, der auf
allen Sportplätzen Old Englands Aufsehen
erregt hatte, — auf Billig von hinten zu-
kam. „Haben Sie Anny schon gesehen?“
fragte er mit einer erstaunlichen Sicherheit.
„Wie weltgewandt und fröhlich Sie sind,“
sagte der olle ehrliche und sentimentale Bil-
lig, der sich aller Qualen, Hindernisse und
Geständnisse entsann, die ihn am Ende nach
Hoppegarten geführt hatten. „Ich werde
Ihnen Anny zeigen — Sie werden sehen, in
welcher Form sie ist.“ Man trat in den
Stall, in dem sich die Jungen am Boden
und im Geschirr zu tun machten. Es
herrschte hier eine Luft wie in einem Ge-
wächshaus. An den schweren Bohlen qualm-
ten Petroleumlampen. „Hier sehen Sie,“
sagte Callius. Der Triumph brach in seiner
Stimme aus und die Röte kroch von sei-
nen Wangen um Schläfe und Haar. Das war
in der Tat ein Pferd, wie man es selten
sieht, ein Goldfuchs, an dem jeder Muskel
gespannt war, mit einem' Hals, der in sei-
ner Linie an den Stengel großer tropischer
Blumen erinnerte, mit Fesseln, so fein und
zierlich, wie an einem Nürnberger Kinder-
spielzeug. Aber die Wut saß in den Augen
und Nüstern. „Haben Sie mal gesehen,“
fragte Callius, „wenn ein solches Tier an-
fängt zu galoppieren? Es wirft den Hals
gegen den Wind wie eine Leine, die Brust
steigt wie ein Schiffsbug, den eine schwere
Welle trifft. Es ist unerhört, mit welcher
Energie es den Kampf mit der Luft auf-
nimmt. Mühelos geht alles vor sich, als
sei dieser Aufwand nur ein Vorwand —
vielleicht läuft er gar nicht, werden Sie den-
ken, mein Lieber — vielleicht rattert die
Erde unter ihm1 in entgegengesetzter Rich-
tung. — Er tänzelt nur, um die Balance zu
halten.“ Billig fand: Pferde sind den Men-
schen viel ähnlicher als Affen — indem er
an Takahaschi dachte. „Ja — o ja (Callius
begeisterte sich wieder. Zerrte dabei an sei-
nem französischen Spitzbart), man muß
Pferde sterben gesehen haben. Es ist ähn-
lich, wie wenn man den Wert eines Men-
schen danach beurteilen kann, ob er sich
gut bei seinem Tode benimmt. Pferde ster-
ben wie wahre Helden — es ist außerordent-
lich.“ Billig dachte an Schinder, Schlacht-
haus und Pferdewurst. Die Stimmung war
ihm plötzlich verdorben. Er erinnerte sich
der Därme, die er in Madrid und Barcelona
aus dem Baach fle» Pferde ahängea f>ah.
Er hörte jhftjir sich einen leichten Schritt,
undTra \rprobte, es ^erTÄcffÄscIfif faßte
Stirnifte ab^febefl wollt Die Luft
wurde aber in “edenklicher Weise schwe-
rer — ein Gewitter begann sich auf der Haut
zu entladen, ehe es seine elementaren Eigen-
schaften sehen ließ. Der Geruch nahm plötz-
lich überhand — ein Blumenduft, so inten-
siv, daß man nicht mehr zweifeln konnte,
eine Gärtnerei sei in der Nähe. Dann aber
fühlte Billig, noch ehe er sich umdrehte, daß
die ganze Kalkulation falsch gewesen sei.
Ganze Philosophien und ihre Kombinationen
stürzten zusammen. Es war eine Minute der
angenehmsten Katastrophen. Man roch
Haut, überdeckten Schweiß, Animalität jeder
Art und parfümierte Wäsche. Es war zwei-
fellos eine Frau in der Nähe. „Ah, Mar-
got!“ schrie jetzt Callius, der seine Begei-
sterung forcierte, „was für eine außerordent-
liche und freudige Überraschung, daß du
kommst, und daß du noch hier in den Stall
kommst, um mich bei meiner Arbeit aufzu-
suchen.“ Dabei faltete er sorgfältig die sanft
violettgefärbten Handschuhe in seiner linken
Hand. Er heftete die Brillantkrawattennadel
tiefer und seine Finger strichen als Schatten
über die stechend weiße Ebene des Hemdes.
Margot lächelte die Zusammenkunft ein. Sie
kommt und geht mit einem Lächeln, inaugu-
riert Familienereignisse, gebiert und stirbt
14
am Ende. Ein Lächeln besagt nichts und for-
dert zur Stellungnahme auf — es bleibt
die beste Oeste eines gewandten Geschäfts-
manns. Das Lächeln setzt uns in eine pein-
W e r 1 nheit — me1 a#cholisch islnd wir
aufzunehmen. ^"Margot lächelte und Billig
wurde weich, so weich, daß er begann:
„Gnädige Frau...“
Das war die frühere Geliebte des Dr. Cal-
lius, eine Ausländerin aus dem Monico mit
allen Allüren einer eleganten, internationalen
Kokotte. Bei Kriegsausbruch heiratete sie,
um allen Schwierigkeiten aus dem Wege zu
gehen, den Elsässer Burmeester, der im
Lederhandel mit außerordentlichem1 Glück
geschoben hatte. Nun war er in der Schweiz,
wo er mit Frauen Tausende durchzubringen
verstand — eine Type, die in der Geschichte
der Zeit mit einem Stern figuriert. Häufig
schickte er die Speisekarten vom Baur au
Lac aus Zürich, von Huguenin, die Va-
rieteprogramme aus Genf und Lausanne.
Margot nahm ihre Sprache mit einer Selbst-
verständlichkeit auf, die jede Widerrede aus-
zuschließen verstand. Hier gab es kein drit-
tes Kriegsjahr, vielmehr eine Jugend von
neuer Eleganz, von Wohlleben, von Reich-
tum des Körpers und des Geistes. Die Gra-
naten, die die Schädel zerfetzen, sind die
Gründer dieser Kultur. Sie sind zu loben.
Sie bereichern die Buntheit. Burmeester trug
einen spitzen Bürgerbauch, um den man
eine Krawatte hätte binden können. Haar-
scharf entging er dem bekannten homeri-
schen Gelächter. Margot konnte nicht mit
ihm ausgehen: da war noch ein blonder,
sehr fader Schnurrbart, der eben aus dem
Bierschaum getaucht zu sein schien, die In-
karnation aller Seelen sächsischer Schulmei-
ster. Der Mann gröhlte, wenn er erregt war,
schwitzte bei Hitze in erschreckender Weise
und hatte die peinliche Angewohnheit, sich
mit einem Taschentuch den Hals abzutrock-
nen. Callius stand neben ihm als ein Jüng-
ling mit den ätherischen Allüren einer glän-
zenden Kinderstube. Seine Eleganz war aus-
gesucht, und er schwitzte auch nicht — er
gehörte ein für allemal zu den Menschen,
die sich das Schwitzen abgewöhnt haben.
Callius besaß noch drei Zimmer mit einer
unerhörten englischen Garderobe aus Frie-
denszeiten. Seine Hutsammlung lockte die
erfahrensten Kenner an — er hatte einhun-
dertdreiundsechzig Stöcke, wie Ernest de la
Jeunesse. Aber Margot lächelte über ihn.
Sie behandelte ihn wie einen Lakaien, und
er schien sich dabei wohlzufühlen. Sie war
fast einen Kopf größer als der olle, senti-
mentale Dr. Billig, und handelte danach. Bil-
lig entsann sich einer Kokotte im Folies-
Bergere, einer Riesenperson im weißen
Atlaskleid, die bei schlechter Laune wie eine
antike Domina die Männer mit nackten Ar-
nien erdrücken konnte. Wenn Takahaschi
sehends über die Gesichter der Erstaunten
fiel und sie eine Zeitlang in einen außeror-
dentlichen Zustand der Erstarrung setzte.
Margot lächelte. Billig sah die asiatische
Linie dieses Lächelns, sah losgelöste, pri-
mitivste Instinkte, fand sich an Gefühle er-
innert, deren höchste Steigerung die Sensa-
tion des Mordes sei. „Wie außerordentlich
lächerlich,“ sagte sich Billig, „wie trottel-
haft meinerseits.“ Takahaschi kam und bat
um eine Zigarette. Er pfiff und schnarrte
mit heller Stimme.
„Wollen Sie noch Pferde sehen?“ fragte
Margot. Billig nickte — es war ihm gleich-
gültig, wo er mit ihr hingehen durfte. Sie
hatte den Vorzug, ihn an seine Reisen zu
erinnern, ihm Geschichten ins Gedächtnis
zurückzurufen, die er mit Sorgfalt als phan-
tastische Eskapaden in seiner Gehirnkam-
mer bewahrte. „Billig, mehr oder weniger
Beamter — Billig, ein Bürger,“ sagte sich
Billig. Er hatte mit geballten Fäusten auf
seinem Bett gelegen, fast geweint im Gedan-
ken an Angelina, die außerordentliche Ko-
kotte von Venedig. Er war ohne jeden eige-
nen Willen, ohne jede Wut, den Grenzen
seiner Individualität nachzujagen. Er lebte
die Tage zwischen Gespenstern hin. Da
kam die Hochbusige aus Madrid: Yo fadoro
mio bondo. In Barcelona war ihm Margue-
rite unter dem Arm erschossen worden,
während er mit spitzem Löffel Sorbet aß.
Ach — oder die Überfahrt nach Afrika in
Erwartung der farbigen Hitze — an der
Seite jener Mulattin, mit der sich aus vie-
len Gründen im Cafe de Dome nicht um-
gehen ließ. , Die verkrüppelten Pflanzen
wuchsen ihm zwischen den Fingern durch
aus dem öden Holzfußboden seines Zim-
mers, aus dem Toiletteeimer roch er den
Sumpfgeruch der Mangrovewälder. Billig
w
fluchte: Dies Weib war die Konzentration
aller fabelhaften Erlebnisse, die Verwirkli-
chung aller Sehnsüchte des ruhelosen Bür-
gers. Margot lächelte. Sie nahm Takahaschi
mit starken Armen auf und setzte ihn auf
ein Pferd. „Kommen Sie, Billig, ich will
Ihnen andere Pferde zeigen.“ Auf einem ab-
gegrenzten Rasenplatz wurden Pferde von
kleinen Burschen herumgeführt. „Sehen Sie,
Billig — sie sagte nicht etwa ah, que c’est
joli! — sagte Margot mit ihrer sehr tiefen
und sonoren Stimme, „ich komme hier nur
hin, um Pferde zu sehen — das Wetten lang-
weilt mich. Nach Schweiß und Angst im
besten Falle einige Hundert Mark gewin-
nen, ist ein Vergnügen für Plebejer.“ Cal-
lius drückte sich herum, um sich bemerk-
bar zu machen, Margot sprach aber weiter,
ohne ihn anzusehen. „Sie mögen es mir
glauben oder nicht — ich liebe nur Pferde
und Bücher. Pferd erinnert mich an Flucht,
siebzehntes Jahrhundert, Eleganz jeder Art.
O — sehen Sie diese Muskeln — ich sah
einen Boxkampf im Cirque in Paris — ich
liebe diese Boxkämpfe, wenn das Blut fließt
— die Plätze sind außerordentlich teuer,
wie Sie wissen, und man ist ganz unter sich
aber, mon dieu, ein Pferd ist ein ruhiges,
erhabenes Schauspiel, ein vollendetes Kunst-
werk, ein exzellenter Qenuß.“ Callius räus-
)erte sich: im Moment wurde Anny vor-
pg"f|ührt. Takahaschi lief mit frummen
fl lilk '"jpinzre be8^utsarm;,wÖitä;“ sagte
Margot, die jemand in der Menge bemerkt
hatte. In dem Gewimmel sah man die brei-
ten, enttäuschten Gesichter der Bürger-
frauen, die „sich auch einmal ein Vergnü-
gen geleistet hatten“ — aber während der
ganzen Zeit den Gedanken an den Eintritts-
preis nicht loswerden konnten. Die Gestalt
des Schiebers in allen Variationen — der Ge-
heimpolizist — auf hundert Meter erkenn-
bar — mit dem forciert protestantischen
Rentiergesicht, mit dem ungewickelten Re-
genschirm. Der Sohn des Volksschullehrers,
der Gelegenheit hatte, in Offiziersuniform
seine Kriegskreuze spazieren zu führen. —
Billig sah betäubt in dem weiten Wirrwarr
den Hut Margots verschwinden. „Mein
Gott,“ sagte er sich, „was soll ich hier ohne
sie?“ Callius sah Billigs Blick auf die
Menge. Einer jener Flachköpfe, die aus der
geringsten Gefühlsäußerung Worte machen
15
können, sagte er: „Es ist erstaunlich, diese
Kriegsexistenzen — wer das beschreiben
könnte; die bekannten Bedingungen der Ge-
sellschaft sind aufgehoben, die Bestie tri-
umphiert.“ „Sie schreiben ja wohl,“ sagte
Billig aus Höflichkeit, fortwährend mit Mar-
got beschäftigt, von der er zeitweise einen
weißen Schimmer sah. „Oh, Sie belieben
zu scherzen, mein Lieber,“ sagte Callius,
„ich dachte, Talent zu haben — aber wenn
man Gelegenheit hatte, unsere Großen zu
lesen und zu verstehen. Wirklich — was
meinen Sie?“ Billig wurde unruhiger und
unruhiger. „Sagen Sie doch nur, Callius
— wer ist diese außerordentliche Frau?“
Callius begann von einer Liebschaft zu re-
nommieren, er habe mit ihr ein halbes Jahr
in der Schweiz gelebt — er sprach sogar
von ihren Schenkeln, indem er mit der Pose
eines internationalen Wüstlings durch die
Zähne pfiff. „Wo haben Sie sie getroffen?“
„Sie spielte in einem Variete — nannte sich
Bodin — Melitta Bodin — ach, sie hat ein
seltsames Schicksal gehabt — ich würde es
Ihnen gern erzählen, wenn nicht die Pflich-
ten der Diskretion — Sie können sich den-
ken, daß man einer Frau gegenüber, die sich
einem ganz hingegeben hat, seine Verpflich-
tungen hat.“ Billig schüttelte sich vor Ekel,
er sah, daß seine Glacehandschuhe geplatzt
waren, und riß sie^nma über die ganze Hand
diL en,vajtmigsvQlhffi
,. JwrÄ
scnwarze wogen mit Hüten, Schirnienflunlt
dumpfem Geschrei stießen nach vorn —
jetzt fiel ein Wind zwischen die Bäume, so
daß die Zweige tief niedergebogen wurden
und an dem Buffet die weißen Decken flat-
terten. Die Schelle schlug wieder an, dies-
mal kurz, bedeutungsvoll. „Start!“ sagte
Callius, „jetzt noch zehn Minuten, und sie
werden Anny laufen sehen.“ Er zog Billig
in eine Ecke und wurde sentimental. „Hö-
ren Sie,“ sagte er, „an diesem Pferd hängt
meine Existenz und die Existenz meiner
Familie. Ich beschwöre Sie — wetten Sie
dreimal Hundert Sieg auf Anny — Sie ma-
chen ein gutes Geschäft und einem Freund
helfen Sie aus einer Verlegenheit. Da Billig
sich keine Mühe gab, aufmerksam zu sein
und mit langem Hals nach Margot aussah,
fuhr er fort: „Mein Gott — morden Sie
mich nicht — haben Sie einen Augenblick
Sinn für ein menschliches Schicksal.“
ö/e Was will
man?
Was kann man?
&
Zu spät
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