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Druck des kapitalistischen Großbürgertums, von dessen Launen er,
besonders am Anfang seiner Laufbahn, abhängig ist wie der Bauer
vom Wetter, das er haßt und dem er dient zugleich. Die Atmo
sphäre individueller Vergottung, mit der ihn zunächst sein eigener
Ehrgeiz, später vielleicht die Umwelt umgibt, erstickt jedes Soli-
daritäts- und Klassenbewußtsein im Keime. Zuzugeben ist, daß
die Vielseitigkeit und Freizügigkeit, die der Künstlerberuf mehr wie
jeder andere gestattet, gewisse ursprüngliche und schlechtweg
menschliche, auch zuweilen kritische Qualitäten gedeihen läßt.
Eben aus diesem Grunde sind es auch oft triebstarke und somit
gesetzwidrige Naturen, die sich ihm widmen. Daher findet man
hier mehr als bei anderen Berufsarten Ausnahmen, welche
den sozialen Einflüssen und der Existenzform, die ihre Arbeit mit
sich bringt, kritische Ueberlegenheit und Eigenwillen entgegenzu
setzen imstande sind. Wenn dies im Deutschland der letzten fünf
zig Jahre weniger als irgendwo sonst der Fall war, so liegt das
daran, daß die industrielle Entwicklung und die kapitalistische Or
ganisation in Deutschland intensiver, lückenloser und allumfassen
der gewesen ist als wohl in irgendeinem anderen europäischen
Lande; wodurch für die Künstlerberufe nur solche Charaktere
übrigblieben, die die geringste Fähigkeit und Neigung zu sozialer
Eingliederung und politischer oder ökonomischer Entfaltung be
saßen.
Der Spielraum künstlerischer Entfaltungsmöglichkeiten war
somit bei uns besonders eng und fast ausschließlich auf individuelle
Gebiete beschränkt. Die Macht des Künstlers in Bezug auf gesell
schaftliche und soziale Fragen war geringer als irgendwo. Die
ökonomische oder politische Bedeutung der Künstler insgesamt
gleich Null. Sie haben es noch nicht einmal fertig gebracht etwa
wie jene unvergeßlichen dreiundneunzig deutschen Intellektuellen,
laut und aller Welt vernehmlich ihr (wenn auch borniertes) poli
tisches Glaubensbekenntnis zu manifestieren.
Man darf darüber aber nicht den psychologischen und kultu
rellen Einfluß der Künstlerschaft auf ihr Publikum und sogar
darüber hinaus vergessen. Ich meine nicht jene Wirksamkeit, von
der sie selbst soviel und oft und selbstherrlich reden, sondern jene,
die sie ganz unwissentlich und unwillentlich ausüben: die Durch
dringung aller Klassen mit der Ideologie, der Moral, der Welt
anschauung der herrschenden Klassen. Es handelt sich hier um
ein eigentümliches Wechselspiel. Jede Kunst verkörpert gewisser
maßen die herrschende Ideologie ihres Zeitalters. Diese Ideologie
jedoch wird dadurch zu jener, welche der herrschenden Klasse ihr
Bestehen ermöglicht und garantiert, daß diese Klasse es einfach in
der Hand hat, jede andere auftauchende Geistesäußerung von vorn-