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Zivilisation gehört hatten, und die heute
so von dem steten Grauen des Todes ge
packt sind, daß sie alle menschlichen Ge
fühle vergessen haben und beim Abend
grauen um die Friedhöfe schleichen, um
dort die Leichen auszugraben und viel
leicht etwas Eßbares zu finden.
Das ist die Wahrheit; schrecklich und
unglaublich, aber doch Wahrheit. So war es
vor einem Monat; heute ist es noch schlim
mer. Heute beginnen Männer und Frauen
in gewissen Teilen des Hungergebietes,
vom Wahnsinn des Hungers getrieben, sich
gegenseitig zu schlachten, um Nahrung
zu haben.
Es ist gewiß nicht leicht und angenehm,
diese Dinge zu sagen, noch sie anzuhören.
Aber sie müssen gesagt werden. Ich sage
sie Ihnen an diesem Abend; ich werde sie
überall wiederholen, weil diese Wahrheit
überall bekannt werden muß.
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Ich will die Völker Europas auf wecken,
ich will ihnen die Wahrheit künden; wenn
sie sie kennen, werden sie ihren Regierun
gen klar machen, daß man handeln muß
ohne Verzögerung, auch wenn es kleine
finanzielle Opfer kostet.
Der Tod dort unten auf dem vereisten
Boden des Wolgagebietes marschiert unauf
haltsam weiter. Er geht mit schnellen
Schritten, und seine Ernte ist reicher noch
als in den langen, furchtbaren Jahren des
Krieges.
Denken Sie daran, was der Krieg den
Regierungen gekostet hat, und denken
Sie ferner daran, wie wenig im Vergleich
dazu die Rettung dieser Millionen Men
schenleben sie kosten würde.
Wenn wir alles geschehen lassen, wenn
wir dastehen, die Arme gekreuzt, was wird
dann die Geschichte von uns denken, was
werden von uns denken unsere Kinder, die
kommenden Generationen! Sie werden uns
einschreiben in die Geschichte als eine
Generation, die aus fünf Kriegsjahren so
grausam, so egoistisch hervorging, daß sie
leeren Herzens dabei stehen konnte und
zusehen, wie Millionen ihrer Brüder und
Schwestern den Hungertod erlitten.
Sechs Wochen kaum ist es her, daß ich
das Wolgagebiet verlassen habe, und die
großen Augen der sterbenden Kinder, die
wir auf Bildern gesehen haben, diese
großen Augen blicken mich immer an.
Für sie ist es, im Namen dieser Kinder,
im Namen der Liebe und der Menschlich
keit, daß ich Sie anrufe, um durch Sie und
Ihre Regierungen zu handeln, und sofort,
in diesem Augenblick zu handeln!
Staatsgefährliche Gedichte.
Es sind bisher im „Gegner* Gedichte nicht ver
öffentlicht worden. Da der Staatsanwalt aber fand,
daß die beiden nachfo'genden Gedichte unseres Ka
meraden Oskar Kanehl genügend Anlaß seien, ein
Ermiitelungsverfahren gegen Kanehl wegen Hoch
verrats zu eröffnen, glauben wir, es dem Staats
anwalt, unserer Antipathie gegen Gedichte und un
seren Lesern schuldig zu sein, diese Gedichte nach
stehend zu veröffentlichen:
Wer fragt danach?
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach?
Proletarierwitwen. Wer fragt danach?
Proletarierkinder verwaist. Wer fragt da
nach?
Die hungern und frieren und verrecken auf
der Straße.
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach?
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach?
Mörder reiben sich die Hände.
Mörder haben Reisepässe.
Mörder haben milde Richter.
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach?
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach?
Minister graben ihren Arsch in Sessel.
Minister mästen Mördergarden.
Minister kriechen hinter Staatsgesetze.
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach?
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach?
Proletarier, die leben! Wir fragen danach.
Beim Blute unserer toten Brüder:
Wir Lebenden wollen euch Antwort geben.
Proletarier erschlagen.
W i r fragen danach.