Volltext: Der Gegner (3(1922),1)

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Zivilisation gehört hatten, und die heute 
so von dem steten Grauen des Todes ge 
packt sind, daß sie alle menschlichen Ge 
fühle vergessen haben und beim Abend 
grauen um die Friedhöfe schleichen, um 
dort die Leichen auszugraben und viel 
leicht etwas Eßbares zu finden. 
Das ist die Wahrheit; schrecklich und 
unglaublich, aber doch Wahrheit. So war es 
vor einem Monat; heute ist es noch schlim 
mer. Heute beginnen Männer und Frauen 
in gewissen Teilen des Hungergebietes, 
vom Wahnsinn des Hungers getrieben, sich 
gegenseitig zu schlachten, um Nahrung 
zu haben. 
Es ist gewiß nicht leicht und angenehm, 
diese Dinge zu sagen, noch sie anzuhören. 
Aber sie müssen gesagt werden. Ich sage 
sie Ihnen an diesem Abend; ich werde sie 
überall wiederholen, weil diese Wahrheit 
überall bekannt werden muß. 
# / 
Ich will die Völker Europas auf wecken, 
ich will ihnen die Wahrheit künden; wenn 
sie sie kennen, werden sie ihren Regierun 
gen klar machen, daß man handeln muß 
ohne Verzögerung, auch wenn es kleine 
finanzielle Opfer kostet. 
Der Tod dort unten auf dem vereisten 
Boden des Wolgagebietes marschiert unauf 
haltsam weiter. Er geht mit schnellen 
Schritten, und seine Ernte ist reicher noch 
als in den langen, furchtbaren Jahren des 
Krieges. 
Denken Sie daran, was der Krieg den 
Regierungen gekostet hat, und denken 
Sie ferner daran, wie wenig im Vergleich 
dazu die Rettung dieser Millionen Men 
schenleben sie kosten würde. 
Wenn wir alles geschehen lassen, wenn 
wir dastehen, die Arme gekreuzt, was wird 
dann die Geschichte von uns denken, was 
werden von uns denken unsere Kinder, die 
kommenden Generationen! Sie werden uns 
einschreiben in die Geschichte als eine 
Generation, die aus fünf Kriegsjahren so 
grausam, so egoistisch hervorging, daß sie 
leeren Herzens dabei stehen konnte und 
zusehen, wie Millionen ihrer Brüder und 
Schwestern den Hungertod erlitten. 
Sechs Wochen kaum ist es her, daß ich 
das Wolgagebiet verlassen habe, und die 
großen Augen der sterbenden Kinder, die 
wir auf Bildern gesehen haben, diese 
großen Augen blicken mich immer an. 
Für sie ist es, im Namen dieser Kinder, 
im Namen der Liebe und der Menschlich 
keit, daß ich Sie anrufe, um durch Sie und 
Ihre Regierungen zu handeln, und sofort, 
in diesem Augenblick zu handeln! 
Staatsgefährliche Gedichte. 
Es sind bisher im „Gegner* Gedichte nicht ver 
öffentlicht worden. Da der Staatsanwalt aber fand, 
daß die beiden nachfo'genden Gedichte unseres Ka 
meraden Oskar Kanehl genügend Anlaß seien, ein 
Ermiitelungsverfahren gegen Kanehl wegen Hoch 
verrats zu eröffnen, glauben wir, es dem Staats 
anwalt, unserer Antipathie gegen Gedichte und un 
seren Lesern schuldig zu sein, diese Gedichte nach 
stehend zu veröffentlichen: 
Wer fragt danach? 
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach? 
Proletarierwitwen. Wer fragt danach? 
Proletarierkinder verwaist. Wer fragt da 
nach? 
Die hungern und frieren und verrecken auf 
der Straße. 
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach? 
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach? 
Mörder reiben sich die Hände. 
Mörder haben Reisepässe. 
Mörder haben milde Richter. 
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach? 
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach? 
Minister graben ihren Arsch in Sessel. 
Minister mästen Mördergarden. 
Minister kriechen hinter Staatsgesetze. 
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach? 
Proletarier erschlagen. Wer fragt danach? 
Proletarier, die leben! Wir fragen danach. 
Beim Blute unserer toten Brüder: 
Wir Lebenden wollen euch Antwort geben. 
Proletarier erschlagen. 
W i r fragen danach.
	        
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