Volltext: Der Gegner (3(1922),1)

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Hunger und Klassenkampf 
Ein neues Schlagwort ist geboren. 
Der Hunger ist dem Proletarier nicht Iremd. Er ist mit dem Begriff Prole 
tariat bis zum gewissen Grade verbunden. Wenn nicht der Hunger direkt in 
seiner brutalsten Form und mit seinen Begleiterscheinungen wie Cholera, Typhus 
und Skorbut in der Behausung des Arbeiters zu finden ist, so wird sein Schicksal 
doch noch heute und überall durch die Angst vor diesem Hunger bestimmt. Die 
Aussicht, auf die Straße geworfen zu werden und dort mit Frau und Kindern 
elendiglich zu verrecken — vielleicht in Westeuropa nicht buchstäblich, sondern 
in der Etappe der Verwahrlosung, der Verzweiflung an seinem Schicksal, Trunk 
sucht und Verbrechen — dieses Bild immer vor Augen hält den Arbeiter noch 
in der Lohnsklaverei. Die Statistik der auf der Straße in Westeuropa Verhungerten 
ist nach offiziellen Ziffern nicht hoch. Trotzdem fühlt der Arbeiter das (Schick 
sal mit Zuckerbrot und Peitsche tief in seiner Existenzgrundlage verankert. In 
der Raffiniertheit eines hochentwickelten kapitalistischen Ausbeutungsnetzes sind 
die äußerlichen Brutalitäten etwas poliert. Und er weiß, daß das, was jetzt in 
Rußland Vor sich geht, im Grunde genommen mehr oder weniger sein eigenes 
Schicksal ist. An der Wolga vollzieht sich das buchstäblich, was der europäische 
Arbeiter in Gedanken so schrecklich empfindet — dort fallen Unglückliche wirk 
lich auf der Straße vor Hunger um, dort wütet die Hungerkrankheit, dort kann 
man in der Tat von dem Tode eines ganzen Volkes sprechen. Es ist der Schrei 
nach Menschlichkeit, nach den ursprünglichen Solidaritätsgefühlen der Menschen 
untereinander, der zu einer gewaltigen Fanfare anschwillt und von Osten her sich 
erhebt. Und doch, so beinahe automatisch und organisch der Widerhall in der 
Brust jedes einzelnen lebendig wird, er erfaßt doch die Manschen nicht gemein 
sam. Er verflüchtet sich in ein Schlagwort, mit dem und um das mit allen 
Mitteln der politischen Verleumdung und des mörderischsten Klassenhasses ge 
rungen wird. 
Die Geschichte des Hungers in Rußland. 
Ich will euch an dieser Stelle nicht aufzählen die einzelnen Methoden und 
Argumente, mit denen um die Propaganda und eine praktische Auswirkung der 
Hungerhilfe gerungen wird, mit dem politischen Endzweck, sie unmöglich zu 
machen, sie zu hemmen oder sie direkt gegen die Arbeiterklasse und gegen die 
Hungernden selbst auszunutzen. Man kann in einer Verteidigung, die man führt, 
seine Beweise auch darauf stützen, daß man die Geschworenenbank, die man an 
ruft, selbst zum Kronzeugen benutzt. 
Ich will jetzt darauf hinweisen, daß man gut tut sich zu erinnern, daß Ruß 
land und überhaupt der gesamte Osten für die augenblickliche Etappe unserer Kul 
turstufe schon immer das Land der Hungerkatastrophen gewesen ist. Es ist eine 
schöne Zusammenstellung, die das Zeitalter des Finanzkapitalismus wunderbar 
charakterisiert, daß Rußland zugleich das Land der größten Ernten, des bedeutend 
sten Getreideexports und zugleich der größten Hungerkatastrophen gewesen ist. 
Lassen wir Indien und Persien, das einstmals der Garten der Erde gewesen ist, 
lassen wir China, das in seiner hochstehenden Ackerkultur noch heute mit Leich 
tigkeit die ganze Welt ernähren könnte, lassen wir diese Länder, die jährlich
	        
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