Volltext: Der Gegner (3(1922),1)

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Schilderungen und Tagebuchnotizen hinterlassen, die in ihrer Hoffnungslosigkeit 
sich mit Dantes Gesängen aus der Hölle an Schreckensbildern messen können. Man 
begreift heute nicht mehr, wie die europäische Welt an solchen Aufschreien teil 
nahmslos hat vorübergehen können. Man begreift kaum mehr, welch raffinierte 
Organisation es dem Zarentum ermöglicht hat, das russische Volk weiterhin zu 
knechten und in einer beispiellosen Abhängigkeit von Pope und Pristav zu halten. 
Es erscheint wie ein Märchen, daß der gleiche russische Bauer, von dem all 
diese Leiden erzählt werden, wieder geduldig und ohne Murren seinen Buckel auch 
im nächsten Jahre unter das Joch gebeugt hat. ^Wir begreifen das nicht mehr, weil 
wir heute alles, die Menschen und die Dinge um uns herum, die Arbeits- und die 
Lebensgrundlage anders betrachten. Die Revolution ist im Land, in dem einen 
in größerer, in dem anderen in schwächerer Kampffront bereits im Gefecht. Die 
von der Lohnsklaverei schwerfällig gewordenen Gedanken sind beflügelt. Das 
Licht der Freiheit blitzt auf, manchmal noch weit in der Ferne, manchmal näher, 
manchmal aber auch auflodernd und glühend nah. Darum sehen wir die Menschen 
und die Verhältnisse anders. Man möchte sagen ungeduldiger, und doch sind 
alle Menschen und auch wir selbst im Wesenskern noch von der Vorzeit her 
belastet. Wir sind noch infiziert von dem Gift, mit dem das Sklavensystem des 
Kapitalismus die menschliche Arbeitskraft, das Menschheitsglück und die Mensch 
heit schlechthin zerstört. 
Die gegenwärtige Katastrophe. 
In den gewaltigen Hungerepidemien, die Anfang der neunziger Jahre des vori 
gen Jahrhunderts Rußland überfluteten, von denen Korolenko so ausführlich be 
richtet, traten als gemeinsam Leidende, gemeinsam von den Folgen Betroffene 
Arbeiter und Bauer als Opfer in Erscheinung. Zwar nicht in direkter Verbin 
dung, auf einer gemeinsamen Front der Verteidigung, sondern in Wirklichkeit nur 
indirekt Der verzweifelte Bauer wird zum Aufstand getrieben in provokato 
rischer Absicht, und die Rache entlädt sich gegen den Arbeiter in der Stadt, der 
zunächst nicht unmittelbar von den Folgen der Hungerkatastrophe betroffen war. 
Heute leben in Rußland die Enkel jener Bauern und Arbeiter in der vordersten 
Linie, in der Kampffront, und deren herangewachsene Söhne und Töchter wiederum 
sind der Fels, auf dem die Zukunft Sowjetrußlands und vielleicht der Weltrevolution 
aufgebaut wird. Dieselben Arbeiter und Bauern sind wiederum, der eine mehr 
mittelbar, der andere mehr unmittelbar in die gleiche Kampffront gezwungen. 
Sie sind sich heute schon viel näher, auch in ihrem Bewußtsein, nicht nur dem 
Grad ihrer früheren Ausbeutung nach. Der Arbeiter hat bereits das Joch seiner 
Ausbeuter abgeschüttelt, er hat diesen Befreiungskrieg auch für die armen Bauern 
geführt, aber seine Stellung in diesem Kriege der Arbeiterklasse gegen das Aus- 
beutertum ist noch nicht stark genug, die Zahl der Fronten, gegen die er im 
Verteidigungskrieg seine Position zu behaupten hat, war zu vielfältig, und der 
Zerfall der Wirtschaft zu groß — als daß dem armen Bauern die sofortigen und 
wirksamen Folgen seines eigenen Sieges bewußt geworden wären und ihn zu 
einem anderen Menschen gemacht hätten. Der Arbeiter beginnt auch die geistigen 
Rückstände seiner Knebelung seit Generationen abzuschütteln, er entfaltet Initia 
tive, mit einem beispiellosen Heroismus arbeitet er, die Zähne zusammengebissen, 
trotz tausender Widerstände an dem Wiederaufbau der Wirtschaft — es ist fast 
jedem Arbeiter heute schon sicher, daß es ihm gelingen wird, daß er den Sieg
	        
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