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Schilderungen und Tagebuchnotizen hinterlassen, die in ihrer Hoffnungslosigkeit
sich mit Dantes Gesängen aus der Hölle an Schreckensbildern messen können. Man
begreift heute nicht mehr, wie die europäische Welt an solchen Aufschreien teil
nahmslos hat vorübergehen können. Man begreift kaum mehr, welch raffinierte
Organisation es dem Zarentum ermöglicht hat, das russische Volk weiterhin zu
knechten und in einer beispiellosen Abhängigkeit von Pope und Pristav zu halten.
Es erscheint wie ein Märchen, daß der gleiche russische Bauer, von dem all
diese Leiden erzählt werden, wieder geduldig und ohne Murren seinen Buckel auch
im nächsten Jahre unter das Joch gebeugt hat. ^Wir begreifen das nicht mehr, weil
wir heute alles, die Menschen und die Dinge um uns herum, die Arbeits- und die
Lebensgrundlage anders betrachten. Die Revolution ist im Land, in dem einen
in größerer, in dem anderen in schwächerer Kampffront bereits im Gefecht. Die
von der Lohnsklaverei schwerfällig gewordenen Gedanken sind beflügelt. Das
Licht der Freiheit blitzt auf, manchmal noch weit in der Ferne, manchmal näher,
manchmal aber auch auflodernd und glühend nah. Darum sehen wir die Menschen
und die Verhältnisse anders. Man möchte sagen ungeduldiger, und doch sind
alle Menschen und auch wir selbst im Wesenskern noch von der Vorzeit her
belastet. Wir sind noch infiziert von dem Gift, mit dem das Sklavensystem des
Kapitalismus die menschliche Arbeitskraft, das Menschheitsglück und die Mensch
heit schlechthin zerstört.
Die gegenwärtige Katastrophe.
In den gewaltigen Hungerepidemien, die Anfang der neunziger Jahre des vori
gen Jahrhunderts Rußland überfluteten, von denen Korolenko so ausführlich be
richtet, traten als gemeinsam Leidende, gemeinsam von den Folgen Betroffene
Arbeiter und Bauer als Opfer in Erscheinung. Zwar nicht in direkter Verbin
dung, auf einer gemeinsamen Front der Verteidigung, sondern in Wirklichkeit nur
indirekt Der verzweifelte Bauer wird zum Aufstand getrieben in provokato
rischer Absicht, und die Rache entlädt sich gegen den Arbeiter in der Stadt, der
zunächst nicht unmittelbar von den Folgen der Hungerkatastrophe betroffen war.
Heute leben in Rußland die Enkel jener Bauern und Arbeiter in der vordersten
Linie, in der Kampffront, und deren herangewachsene Söhne und Töchter wiederum
sind der Fels, auf dem die Zukunft Sowjetrußlands und vielleicht der Weltrevolution
aufgebaut wird. Dieselben Arbeiter und Bauern sind wiederum, der eine mehr
mittelbar, der andere mehr unmittelbar in die gleiche Kampffront gezwungen.
Sie sind sich heute schon viel näher, auch in ihrem Bewußtsein, nicht nur dem
Grad ihrer früheren Ausbeutung nach. Der Arbeiter hat bereits das Joch seiner
Ausbeuter abgeschüttelt, er hat diesen Befreiungskrieg auch für die armen Bauern
geführt, aber seine Stellung in diesem Kriege der Arbeiterklasse gegen das Aus-
beutertum ist noch nicht stark genug, die Zahl der Fronten, gegen die er im
Verteidigungskrieg seine Position zu behaupten hat, war zu vielfältig, und der
Zerfall der Wirtschaft zu groß — als daß dem armen Bauern die sofortigen und
wirksamen Folgen seines eigenen Sieges bewußt geworden wären und ihn zu
einem anderen Menschen gemacht hätten. Der Arbeiter beginnt auch die geistigen
Rückstände seiner Knebelung seit Generationen abzuschütteln, er entfaltet Initia
tive, mit einem beispiellosen Heroismus arbeitet er, die Zähne zusammengebissen,
trotz tausender Widerstände an dem Wiederaufbau der Wirtschaft — es ist fast
jedem Arbeiter heute schon sicher, daß es ihm gelingen wird, daß er den Sieg