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Kandinsky, Aquarell 1915/16
enthüllt sich die bahnbrechende Bedeutung Kan*
dinskys für unsere Zeit. Die Bücher, die der
»Sturm« ihm gewidmet hat, die neue von Hugo
Zehder geschriebene Monographie,*) die tempe
ramentvoll und überzeugend für den lange Ver*
höhnten wirbt, darf nicht darüber hinweg*
täuschen, daß dieser große Künstler im allge*
meinen noch längst nicht in seiner vollen Be*
deutung erkannt und gewürdigt wird. Und doch
hat kein Künstler vor ihm die unerhörten Mög*
lichkeiten der Farbe sicherer erkannt, mit feineren
Nerven gefühlt, großartiger ausgenützt und
ihre musikalische Symbolik tiefer empfunden als
er. Seine Bilder bedürfen nicht des optisch natur*
haften Gleichnisses, sie sind so reich und aus*
drucksvoll in der Sprache, so berauschend in ihrer
Folyphonie, daß sie uns auf Augenblicke das chao*
tische Geschehen um uns her vergessen lassen.
Während Kandinsky das Jenseitige im »Er*
scheinungslosen« und Unwirklichen, gleichsam
nur in der Gelöstheit des Musikalischen zu er*
leben vermag, gestaltet Chagall, sein großer
Gegenspieler, die Mystik der Wirklichkeit. Tief
im mütterlichen Boden Rußlands wurzelnd und
Von seinem fanatischen Judentum getrieben
schon hier auf Erden den Fingerzeigen der
Ewigkeit nachzuspüren, gibt er die diesseitige
Welt nicht auf, schließt nicht die Augen vor der
Realität, sondern zeigt gerade mitten in der All*
*> Verlag von Rudolph Kämmerer, Dresden.
täglichkeit das Spukhafte, Dämonische, Jenseitige
jeglicher Existenz. Im Banalen, Schmutzigen,
im Allzu*Irdischen reißt er Schollen auf, aus
denen plötzlich blutige Diablerien hervorbrechen.
In der grellen Intensität seiner Farben glühen
alle Rasereien, da schwelt Wollust, da flackert
schwüle Verzückung, da zuckt Grausamkeit im
Aufschrei gellenden Rots, da phosphoresziert
Verwesung und Ekel, aber da blaut auch tiefes
Mitleiden und demutsvolles Lieben zu der ge*
quälten Kreatur. Tierhaftes und Göttliches,
Verworfenes und Erhabenes, Sinnliches und
Übersinnliches sind rätselvoll ineinanderver*
strickt, so daß niemand die Grenze zwischen
Diesseits und Jenseits aufzeigen kann. Solcher*
art wachsen seine Gestalten ins Grenzenlose
hinein. Seine Bilder, seine Aquarelle, von denen
wir in der Ausstellung eine große Anzahl be*
wundern dürfen, wirken im ersten Augenblick toll
und exzentrisch, aber plötzlich kommt in sie der
schwermütige dumpfe Klang der Volkslieder, der
tiefe Sinn uralter Legenden, die aus Lust und Qual
ganzer Völker, aus dem geheimnisvollen Blutlauf
der Menschheit emporblühen. Nur dies eine
Beispiel: nur dieser alte graue, in sich versunkene
Geiger, scheinbar naturalistisch, ganz einfach
mit dem Pinsel auf vergängliches Papier ge
zaubert — und doch ein mythisches Wesen,
wie von Jahrtausenden her das uralte Lied spie*
lend, nach dem die kleinen verirrten Menschen