Full text: Zweiter Jahrgang (2(1921))

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Einflüssen tritt hier eine ungekünstelte naive 
Einfachheit hervor,die schöpferisch ist im höchsten 
Sinne. Außer Satie hat Poulenc ohne Zweifel 
den stärksten Trieb zum Primitivismus. Die 
Intensität des melodischen Ausdrucks ist sehr 
groß und innig. Die Singstimme ist führend. 
Die Begleitung so ökonomisch wie möglich. 
Deklamatorisch ist man ziemlich unbekümmert, 
betont z. B. In nourriture die zweite Silbe. So 
etwas erfreut. Denn beim Liede kommt es weiß 
Gott auf richtige Aussprache erst in zweiter 
Linie an. Das Melodische ist wichtiger. Beiden 
Schlüssen liebt man den reinen Dreiklang mit 
eingeschobener Sekunde. 
Diese vier Namen mögen genügen. Im üb* 
rigen ist in Paris Strawinsky dominierend. Aus 
der weiteren Debussy*Gefolgschaft ragen Mau* 
rice Ravel, Florent Schmitt, Jean Cras und 
Gustave Samazeuilh hervor. Der Engländer 
Leigh Henry beginnt sich durchzusetzen. Alles 
in allem eine erfreuliche Gemeinsamkeit in der 
Entwicklung der verschiedenen Länder. Und: 
der Krampfzustand ist vorbei. Die »obere Ein* 
fachheit« beginnt. Das ist beileibe kein Rück* 
schritt! Es entspricht den Tendenzen der neuen 
Italiener um »Valori Plastici«, den Tendenzen 
Picassos und Bracques. George Grosz nannte 
einmal gesprächsweise das Wort »Aufbauis* 
mus«. Sollten wir der Vollendung näher sein 
als wir zu glauben wagen? Sollte wirklich die 
neue Form in strahlender Vollendung schon da 
sein? Busoni spricht dafür. Schönberg durch* 
lebt Wandlungen, die es wahrscheinlich machen. 
Satie beweist es! 
Hans Heinz Stuckenschmidt. 
Kubismus und Sinneserfahrung 
Im Verlage des »Effort moderne«, Paris, ist 
soeben ein Heft Aphorismen erschienen, das 
den Leiter dieses Hauses, Leonce Rosenberg, 
zum Verfasser hat. Die Schrift führt den Titel 
»Cubisme et empirisme«. Sie zieht in der Form 
scharf und schneidig gefaßter Merksprüche die 
Grenze zwischen der herkömmlichen naturalisti* 
sehen Überlieferung, die sich auf die Sinneser* 
fahrung stützt, und dem neuen Wollen, das im 
Kubismus seinen Niederschlag findet. Die Treff* 
Sicherheit der sprachlichen Abfassung dieser 
kurzen Sätze dürfte in Frankreich viel zur Klä* 
rung der künstlerischen Ansichten beitragen. 
Da Rosenberg gänzlich auf den Kubismus ein* 
geschworen ist, kann aber auch für die mehr zum 
Expressionismus neigenden Deutschen aus der 
Bekanntschaft mit Rosenbergs Begriffsfestset* 
zungen — des Gegensatzes halber — helleres 
Wissen hervorgehen. »Der Kubismus ist der 
Weg zu den Sternen«, schreibt Rosenberg. 
»Nach vier Jahrhunderten der Sinneserfahrung 
ist es die Hoffnung auf die baldige Umkehr zur 
wahren Erkenntnis.« Der Kubismus befreit 
von der Sinneserfahrung und damit von der 
bloß individuellen Formgültigkeit der Werke. 
»Der Individualismus, er ist der eigentliche 
Feind.« Er führt zur Abschreiberei und Ideen* 
plünderung. »Das Bedürfnis rasch zum Ruhme 
zu gelangen verhindert gewisse Künstler aus 
den Grundgesetzen selbständig die Form ihrer 
Kunst zu entwickeln und stachelt sie infolge* 
dessen, im Schaffen anderer •— was leichter und 
geschwinder zu bewerkstelligen ist —- nach der 
nutzbringenden Stilgattung zu suchen. Sie eignen 
sich einen oder nacheinander mehrere jener Her* 
stellungsarten zu, die man sich eitlerweise ge* 
wohnt hat mit Schlagworten zu belegen. Und 
dieses Nacheinander von Plünderungen ist es, 
welches die Individualisten „Kunstüberliefe* 
rung" zu benennen wagen.« Worauf nament= 
lieh der impressionistische Maler sich etwas zu 
gute tat, seine Witterung, seinen Schwung, sein 
Gelegenheitsfeuer, gerade dies bilden die Ge* 
genwerte der kubistischen Künstler. »Weise 
von dir, heißt es bei' L. Rosenberg, was ledig* 
lieh auf den Instinkt gebaut ist und keine andere 
Regel als den Zufall kennt.« Folgerichtig schließt 
sich daran die Wertbezweiflung impressionisti* 
scher Kunstanführer, »Das 19. Jahrhundert, in 
dem sich schon eine neue Welt anmeldete, war 
gegen sein Ende allzu freigebig. So beging es 
gar sonderbare Irrtümer: Puvis deChavannes, 
Carriere, Gauguin, Degas.« Cezanne hingegen 
bleibt unbestritten,- der Sinn seines Lebens wird 
dabei von den Leistungen hinweg mehr in das 
Ethos und in die menschliche Einzigartigkeit 
dieses Lebens verlegt. »An einem, vielleicht
	        
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