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Einflüssen tritt hier eine ungekünstelte naive
Einfachheit hervor,die schöpferisch ist im höchsten
Sinne. Außer Satie hat Poulenc ohne Zweifel
den stärksten Trieb zum Primitivismus. Die
Intensität des melodischen Ausdrucks ist sehr
groß und innig. Die Singstimme ist führend.
Die Begleitung so ökonomisch wie möglich.
Deklamatorisch ist man ziemlich unbekümmert,
betont z. B. In nourriture die zweite Silbe. So
etwas erfreut. Denn beim Liede kommt es weiß
Gott auf richtige Aussprache erst in zweiter
Linie an. Das Melodische ist wichtiger. Beiden
Schlüssen liebt man den reinen Dreiklang mit
eingeschobener Sekunde.
Diese vier Namen mögen genügen. Im üb*
rigen ist in Paris Strawinsky dominierend. Aus
der weiteren Debussy*Gefolgschaft ragen Mau*
rice Ravel, Florent Schmitt, Jean Cras und
Gustave Samazeuilh hervor. Der Engländer
Leigh Henry beginnt sich durchzusetzen. Alles
in allem eine erfreuliche Gemeinsamkeit in der
Entwicklung der verschiedenen Länder. Und:
der Krampfzustand ist vorbei. Die »obere Ein*
fachheit« beginnt. Das ist beileibe kein Rück*
schritt! Es entspricht den Tendenzen der neuen
Italiener um »Valori Plastici«, den Tendenzen
Picassos und Bracques. George Grosz nannte
einmal gesprächsweise das Wort »Aufbauis*
mus«. Sollten wir der Vollendung näher sein
als wir zu glauben wagen? Sollte wirklich die
neue Form in strahlender Vollendung schon da
sein? Busoni spricht dafür. Schönberg durch*
lebt Wandlungen, die es wahrscheinlich machen.
Satie beweist es!
Hans Heinz Stuckenschmidt.
Kubismus und Sinneserfahrung
Im Verlage des »Effort moderne«, Paris, ist
soeben ein Heft Aphorismen erschienen, das
den Leiter dieses Hauses, Leonce Rosenberg,
zum Verfasser hat. Die Schrift führt den Titel
»Cubisme et empirisme«. Sie zieht in der Form
scharf und schneidig gefaßter Merksprüche die
Grenze zwischen der herkömmlichen naturalisti*
sehen Überlieferung, die sich auf die Sinneser*
fahrung stützt, und dem neuen Wollen, das im
Kubismus seinen Niederschlag findet. Die Treff*
Sicherheit der sprachlichen Abfassung dieser
kurzen Sätze dürfte in Frankreich viel zur Klä*
rung der künstlerischen Ansichten beitragen.
Da Rosenberg gänzlich auf den Kubismus ein*
geschworen ist, kann aber auch für die mehr zum
Expressionismus neigenden Deutschen aus der
Bekanntschaft mit Rosenbergs Begriffsfestset*
zungen — des Gegensatzes halber — helleres
Wissen hervorgehen. »Der Kubismus ist der
Weg zu den Sternen«, schreibt Rosenberg.
»Nach vier Jahrhunderten der Sinneserfahrung
ist es die Hoffnung auf die baldige Umkehr zur
wahren Erkenntnis.« Der Kubismus befreit
von der Sinneserfahrung und damit von der
bloß individuellen Formgültigkeit der Werke.
»Der Individualismus, er ist der eigentliche
Feind.« Er führt zur Abschreiberei und Ideen*
plünderung. »Das Bedürfnis rasch zum Ruhme
zu gelangen verhindert gewisse Künstler aus
den Grundgesetzen selbständig die Form ihrer
Kunst zu entwickeln und stachelt sie infolge*
dessen, im Schaffen anderer •— was leichter und
geschwinder zu bewerkstelligen ist —- nach der
nutzbringenden Stilgattung zu suchen. Sie eignen
sich einen oder nacheinander mehrere jener Her*
stellungsarten zu, die man sich eitlerweise ge*
wohnt hat mit Schlagworten zu belegen. Und
dieses Nacheinander von Plünderungen ist es,
welches die Individualisten „Kunstüberliefe*
rung" zu benennen wagen.« Worauf nament=
lieh der impressionistische Maler sich etwas zu
gute tat, seine Witterung, seinen Schwung, sein
Gelegenheitsfeuer, gerade dies bilden die Ge*
genwerte der kubistischen Künstler. »Weise
von dir, heißt es bei' L. Rosenberg, was ledig*
lieh auf den Instinkt gebaut ist und keine andere
Regel als den Zufall kennt.« Folgerichtig schließt
sich daran die Wertbezweiflung impressionisti*
scher Kunstanführer, »Das 19. Jahrhundert, in
dem sich schon eine neue Welt anmeldete, war
gegen sein Ende allzu freigebig. So beging es
gar sonderbare Irrtümer: Puvis deChavannes,
Carriere, Gauguin, Degas.« Cezanne hingegen
bleibt unbestritten,- der Sinn seines Lebens wird
dabei von den Leistungen hinweg mehr in das
Ethos und in die menschliche Einzigartigkeit
dieses Lebens verlegt. »An einem, vielleicht