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Raynald, der Interpret ihrer Kunst und ihrer
Theorie,*) würde es gerne sehen, wenn sie sich
auch zu gemeinsamer Arbeit an einem Gemälde
zusammenfänden, da er in dem einen die Er»
gänzung des anderen erblickt, » Chez Ozenfant la
deduction semble plus rationelle, chez Jeanneret
eile parait plus sensible, Bien qu'unis par les
memee directives, leurs temperaments particu»
liers se font jour,- l'esprit deductif du premier
complete la sensibilite deductive du second.
Jeanneret semble plus peintre, Ozenfant plus
artiste,- le premier sent et present, le second
comprend et devine.«
Ozenfant 'S) Jeanneret haben ihre Bestre
bungen mit dem Schlagwort »Purismus« ge
kennzeichnet, Sie lieben es, ihre Definitionen und
Forderungen in knappe Thesen zu bringen.
Le Purisme craint le bizarre et r»original«.
II recherche l'element pur pour en reconstruire
des tableaux organisises qui semblent etre faits
par la nature meme.
Le besoin d'ordre est le plus eleve des besoins
humains,- il est la cause meme de hart,
II n'est pas possible d'associer plastiquement
des formes sans canon, c'est ä dire sans lien regu-
lateur,qu'on le fasse intuitivementou sciemment,
Une esthetique, une oeuvre d'art sont avant
tout des systemes,
Une attitude n'est pas un Systeme,
Le genie s'exprime ä l'aide de systemes.
II n'y a pas d'oeuvre d'art sans Systeme.
Zur Stellung zum Kubismus:
Le Purisme n'entend pas etre un art scientifique
ce qui n'aurait aucun sens.
II estime que leCubisme est demeure, quoiqu'on
en dise, un art decoratif, ornemanisme roman»
tique.
Zur Stellung zur Natur:
Le Purisme ne croit pas que retourner ä la
nature signifie retourner ä la copie de la nature.
Audi Andre Lhote, der die seit 1917 von
ihm eingeschlagene Richtung als »Totalismus«
•> Maurice Raynald: Ozenfant 'S) Jeanneret (anläßlich
der Ausstellung in der Galerie Druet, Paris vom 22. Januar
bis 5. Februar 1921).
bezeichnet, hat die Angst vor der Naturdarstel»
lung überwunden. Seine Stellung zur Natur
präzisiert er in folgendem Briefe an Andre
Salmon*):
»Ich habe viel nachgedacht und dann viel ge
arbeitet,- und am Anfang meines Aufenthaltes in
Bordeaux habe ich versucht aus Ermüdung, aus
Dilletantismus und vielleicht auch aus Müßig»
gang vollkommen nach der Natur zu arbeiten.
Das Resultat hat die kleinsten, die letzten
Zweifel in mir beseitigt und mich von der Vor»
züglichkeit der klassischen Arbeitsmethode über»
zeugt, die darin besteht: nach der Natur zu zeich»
nen und auswendig <par coeur) zu malen.
Die Meister aller Zeiten haben bewiesen, daß,
wenn es nötig ist, mit der Arbeit nach der Natur
zu beginnen, es ebenso nötig ist, die Existenz des
Ausgangsmodells zu vergessen, weil das Bild,
die andere Realität, den Ausdruck eines neuen
und unerhörten Problems zu lösen verlangt.
Der Fehler aller schlechten Maler und oft unser
eigener Fehler ist, zu sehr achtzugeben auf die
»Herrin Natur« und nicht genug auf die »Herrin
Malerei«, ihre Rivalin.
Wir sind zwischen diese beiden Göttinnen
gestellt.
Man muß gleichzeitig den Anforderungen bei»
der genügen.
Untreue gegen die erste führt zum »Pompie»
rismus«, Untreue gegen die zweite zur seelen»
losen Photographie. Die Natur liefert uns die
Erstlinge,- sie verschmähen, wäre Verrücktheit.
Auf dieser Basis muß man operieren, wenn man
die picturalen Schlußfolgerungen sucht.
Wieviel Worte muß man noch darüber ver»
lieren?
Wieviel Tinte verbrauchen?
Wieviel schlechte Bilder muß man erdulden,
bevor man die Maler und die Kunstliebhaber
von folgender Binsenwahrheit überzeugt hat:
»Der Ankunftspunkt ist nicht der Ausgangs»
punkt.«
*> Andre Salmon »L'art vivant«, Cres, Paris 1920,
pag. 90 ff.