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anderen realen Gegenständen und Stoffen in das Bild
zu gedenken, die Picasso in den Jahren 1912—1914
versucht hat. »Durch diese Tendenz gelangte er nahe
an die reinste Realität, machte er — wenn man so
sagen darf — seine Erregung auf die unmittelbarste
Weise kontret. So entstammte, um das Beispiel des
Zeitungspapiers anzuführen, diese Vorliebe der Har»
rtionie, die in der Verteilung der schwarzen Buch»
staben über das weiße Papier im allgemeinen emp=
funden wird« <Raynald>.
Eine sensationell empfundene Wendung hat Pi»
cassos Entwicklung seit 1917 genommen: Raynold
charakterisiert sie als »ein Streben zu der Tradition
des Museum zurückzukehren«. Damit ist eigentlich
alles gesagt. Ein vollständiger Abfall vom Kubismus
tritt allerdings nicht ein, denn merkwürdigerweise
entstehen neben Werken jener Rückkehr zur natur»
formgetreuen Kunst noch immer solche der rein ku»
bistischen Methode und solche, in denen die beibe-
haltene geschlossene Naturform kubistisch ausge»
wertet wird. Es fehlt natürlich nicht an Stimmen
Mißgünstiger (besonders aus dem Lager Matisses),
die nun die Gelegenheit wahrnehmen, Picasso als
kalten Spekulanten, dem es um die Befriedigung von
Kunsthändlerwünschen zu tun ist, hinzustellen. In
diesem bösartigen Sinne hat sich auch Otto Grau»
toff, der den Kubismus seit eh und je ebenso miß
versteht als er die Kunst Matisses kritiklos bewundert,
in einem Aufsatz der Zeitschrift »Kunst und Künstler«
und in seiner in jeder Hinsicht unzulänglichen und
leichtfertigen Schrift »Französische Malerei seit
1914« (Mauritius-Verlag Berlin 1921)geäußert.
Hämischen Flachköpfen mag diese »Erklärung« be
friedigen. Wir bescheiden uns zuzugeben, daß uns die
jüngste Wandlung Picassos vor ein Rätsel stellt, das
sich auf psychologisch-rationellem Wege wohl nie»
mals lösen lassen wird.
Wenn Raynald in der letzten Wandlung Picassos
eine Ermüdungserscheinung sieht, wenn er die jüngste
Periode des Künstlers eine Periode der Unruhe und
der Schwankungen nennt, so spricht er damit ein Wert*
urteil aus, das mir — selbst wenn es noch schärfer
formuliert wäre — durchaus gerechtfertigt erscheint.
Alle Bewunderung, die wir für Picasso empfinden,
darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine letzten
»naturalistischenWerke« einNachlassen seiner künst»
lerischen Ausdruckfähigkeit und Stilsicherheit fühlbar
machen. »Irgendwelche Sterne in seinen Augen sind
erloschen.« —
Die Entwicklungskur ve Kandinsky, mit der Picassos
verglichen, verläuft eigentlich sehr unkompliziert. Sein
Werk läßt sich zwanglos in zwei Gruppen sondern:
in eine der Frühzeit (bis 1908) mit anekdotischem
Inhalt und farbig-dekorativer Stiltendenz — und in
die darauffolgende der gegenstandslosen oder »abso
luten« Malerei. Nur dieser kommt künstlerische Be»
deutung zu. Die theoretische Fundierung der »abso
luten Malerei« geht auf Kandinsky selbst zurück.
Neuerdings hat Hugo Zehder in seiner Kan«
dinsky-Monographie (Rudolf Kaemmerer,
Dresden 1921) das Problem der absoluten Malerei
zur Sprache gebracht unter fortlaufender Bezugnahme
auf Kandinskys Schriften (besonders auf seine 1918
in russischer Sprache erschienenen Monographie, eine
vom Künstler selbst besorgte Umarbeitung der seiner
zeit im »Kandinsky-Album« des Sturms (1913) ver
öffentlichten Selbstbiographie).
Was Kubismus und absolute Malerei miteinander
gemeinsam haben, ist die zum künstlerischen Prinzip
erhobene Unabhängigkeit (und Unvergleichbarkeit)
des Kunstwerkes vom Naturwerke. Kandinsky strebt
»eine Malerei an, die durch Hilfe ihrer Mittel zur Kunst
im abstrakten Sinne heranwachsen und schließlich die
rein malerische Komposition erreichen wird.« Die
Mittel des Malers sind: 1. die Farbe, 2. die Form
(Linie, Fläche, Fleck usw.). Diese sind nicht selbst
als solche wichtig, sondern nur ihr innerer Klang, ihr
Leben. Die Beschränkung auf abstrahierte oder ab
strakte Formen und absolute Farben bedeutet gleich
zeitig einen Verzicht auf jeden Gegenstand. Kan
dinskys Bilder sind gegenstandslos — zum Unterschied
von den kubistischen, wo der Gegenstand (z. B. die
Gitarre) eine ausschlaggebende Rolle spielt, nicht der
Gegenstand der Sinneserfahrung allerdings, sondern
der auf dem Wege der intuitiven Erkenntnis von
allem Veränderlichen, Natürlich-Organischen, derZeit
und dem Tode Unterworfenen gereinigte Gegenstand
— der »absolute« Gegenstand, Kandinskys Bilder
dagegen haben — wir wiederholen es — keinen Ge
genstand. Wohl aber einen Inhalt. Form und Farbe
sind — im Matisse'schen Sinne — Äquivalente eines
seelischen Inhalts.
Kandinskys Kunst ist Aufzeigen der Korrelationen
zwischen demSeelischen und dem Absoluten, d. h. jedem
sinnlichen Zusammenhang entzogenen Mitteln der
Form und der Farbe. Die künstlerische Vereinheit
lichung der Mittel ist Aufgabe der Komposition. Für
die Wahl der Mittel ist das Gefühl entscheidend, wäh
rend sich die Komposition nach den Gesetzen der
»inneren Notwendigkeit« regelt, (Die Rolle, die die
Intuition im Kubismus spielt, übernimmt bei Kan
dinsky das Gefühl.) Vielleicht ließen sich die prinzi
piellen Unterschiede zwischen Kubismus und absoluter
Malerei schlagwortartigzu folgenden zwei Gegensatz
reihen komprimieren:
Kubismus:
Spiritualismus
Intuition
Vita contemplativa
Statik
Linie
Konstruktion
Raum
Kandinsky:
Emotionalismus
Gefühl
Vita passiva
Dynamik
Farbe
Abstraktion
Zeit
Leopold Zahn.