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OSKAR KOKOSCHKA 1920
Von HANS TIETZE
Ein Gesamtbild der Wiener Kunst von heute ohne Kokoschka ist ein Fragment/ mit Kokoschka
ist es eine Lüge. Den Ausgleich schafft der Versuch, ihn in das Bild hineinzuzeichnen als einen
Abwesenden, auf die Stelle zu deuten, die durch sein Fehlen leer bleibt und die Ganzheit der
Wiener Malerei, in der der nach
Dresden Entwanderte einen füh
renden Platz innehätte, als ein Ideal
anzusehen, das eine stete Forderung
in sich schließt. Wiens kulturelle
Stellung steht heute im Zeichen einer
schweren Krise, deren Verlauf sich
in einem Circulus vitiosus bewegt,-
spät, müde und beendet, von der
Patina verbrauchter Kulturen be
deckt und fast verzehrt, kann die
Stadt nur auf Neubelebung hoffen,
wenn sie an sich glaubt, kann sie
nur an sich glauben, wenn sie die
Symptome der Auferstehung irgend^
wo in sich fühlt. Sie ist unrettbar
verloren, wenn alle sie preisgeben,-
und wer sollte sie nicht preisgeben,
der Zeuge ihres erschreckenden Ver^
falles ist ? Deshalb hat das Bild
Wiens, wie es sein könnte und
sollte, als eine moralische Forde
rung zügelten,- und das andere Bild,
wie es ist, ist nicht nur Mangel, son^
dern auch Schuld.
Die Bedeutung überragender
Künstler liegt nicht in ihrer unmittel
baren Einwirkung — die ja gleich^
zeitig die Gefahr ist, die sie dar^
stellen sondern in dem Maßstab,
den sie liefern,- durch die Verwirk^
lichung erhöhter Möglichkeit, die in
ihnen verkörpert ist, bieten sie einen
Ansporn von höchster Intensität.
Oskar Kokoschka hat in seinen Wie=
ner Jahren die meisten, die mit ihm
in Berührung traten, irgendwie beeinflußt,- nicht nur die Jugend stand in seinem Bann, mancher
ältere, vermeintlich zum Abschluß gelangte Künstler hat sich seinem Faszinium nicht entziehen
können. Aber seine eigentliche Bedeutung für die junge Kunst bestand doch in etwas anderem,
O. Kokoschka
Gemälde 1920 <Slg. Lanyi, Wien)
<Mit Genehmigung von Paul Cassirer, Berlin)