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ENGLAND
Kurzer Überblick der modernen Kunstbe
wegung
Es ist eine seltsame Erscheinung, daß, während
auf dem europäischen Festland die Menschheit in den
Kunstbestrebungen Trost und Erholung von den
Wunden und Nachleiden des Weltkrieges sucht, ge*
rade in England in dieser Beziehung Ernüchterung
und Erschlaffung eingetreten ist. Der Rückschlag ist
um so bedauerlicher als die beiden letzten Kriegsjahre
zu einem beispiellosen Aufschwung in Kunstproduk*
tion und Kunstgönnerschutz führten. Zum ersten
Male übernahm der Staat die Förderung der bilden*
den Künste, wenngleich die Beweggründe eher poli*
tischer als ästhetischer Natur waren. Dies an sich
selbst war überraschend genug. Geradezu verblüffend
aber war die von der Regierung eingeschlagene Rieh*
tung der Protektion expressionistischer Kunst.
Nichts kann für den Siegeswillen, für die feste
Überzeugung des endgültigen Erfolges bezeichnender
sein, als die Entscheidung des Propagandamini
steriums (Ministry of Information), während
der finsterst drohenden Periode des Krieges, inmitten
der beunruhigendsten Nachrichten vom Kriegsschau*
platze, eine kleine Armee von Künstlern zu orga*
nisieren um an Ort und Stelle — in Frankreich und
Flandern, in Gallipoli und Italien, in Palästina und
Mesopotamien, zu Land und zur See und in den
Lüften — mit Stift und Pinsel und Meißel eine dau*
ernde Chronik des welterschütternden Kampfes nieder*
zuschreiben. Und zwar waren es nicht die alten Aka*
demiker und Professoren, denen die Aufgabe anver*
traut wurde, sondern die lebenskräftigen und Schaffens*
freudigen jungen Kämpfer aus den Schützengräben,
die, dem Aufruf zu den Waffen folgend, das wahre
Wesen des Krieges aus eigener Erfahrung kennen
gelernt hatten. Ein vom Propagandaministerium er*
nannter Ausschuß verläßlicher Kritiker und Kunst*
kenner, bei dem allen Präcedenzien zum Trotze weder
die Royal Academy, noch irgendeine andere »offi*
zielle« Künstlergenossenschaft vertreten war, entwarf
die Liste der geeignetsten Künstler, und das Kriegs*
ministeriiyn stellte dem Ansuchen der zeitweiligen
Entlassung der betreffenden Soldaten und Offiziere
aus dem Kriegszwang keine Schwierigkeiten entgegen.
Kanada hatte schon vorher einen ähnlichen Plan be*
folgt, der in einem Museum von über sechzig Monu*
mentalgemälden erstklassiger Künstler meistens mo»
derner Richtung und von etwa 900 kleineren Werken
zur Ausführung kam. Die von der englischen Regie*
rung beschäftigten Künstler zählten nach Hunderten —
ihre Werke nach Tausenden. So wurde nicht nur
eine bis ins kleinste Detail vollständige bildliche
Chronik des englischen Kriegsanteils geschaffen, son*
dem auch die Blüte und Hoffnung der künstlerischen
Jugend Englands der Gefahr von Tod, Erblindung
und Verstümmelung entzogen.
Obgleich nicht gänzlich ausgeschlossen, wurden
doch die Anhänger der akademischen Richtung und
die traditionellen graphischen Berichterstatter ziemlich
hintangesetzt. Dagegen wurden die erlebnislustigen
Sucher nach neuen Ausdrucksmitteln zu den ehren*
haftesten Aufgaben herangezogen. Die großen De*
korationsgemälde, zum Schmucke der Hauptsäle des
erst zu erbauenden Kriegsmuseums bestimmt, wurden
fast ausnahmslos den jungen englischen Expressio*
nisten, Vorticisten, Kubisten und Futuristen anver*
traut. Zum ersten Male fand auf diese Weise die
Neue Kunst großzügige offizielle Anerkennung und
Unterstützung. Allerdings nicht ohne Protest und