Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

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HOLLAND 
Zur gegenwärtig in Deutschland weilenden 
Ausstellung junger holländischer Kunst 
Der treibende Gedanke, der in der holländi= 
sehen Kunst seit 1890 mächtig ist und zur Hervor 
bringung von Werken geführt hat, die sich von 
denen des vorangehenden impressionistischen 
Zeitalters im Stil, in der Gesinnung, im Zwedc, 
kurzum in allem Wesentlichen aufs nachdrück** 
lichste unterscheiden, dieser treibende Gedanke, 
der gleichlaufend auch das dichterische, baukünst 
lerische, musikalische und philosophische Schaffen 
in Holland ergriffen und gründlichst verändert 
hat, bedeutet nicht ein rein örtliches Ereignis, 
sondern eine über den gesamten europäischen 
Erdteil hinziehende Welle der Erhebung und 
des Umsturzes. Er bedeutet das Einläuten einer 
neu anfangenden Wirklichkeit, nachdem die bis 
herige und alte durch das blinde, gutheißende 
Zutrauen, durch die unwürdige, verantwortungs** 
scheue Geduld der Zeitgenossen aus ihrem 
Gleichgewichte geraten war. Er bedeutet die 
Rückverlegung des irdischen Angelpunktes von 
den Außenerscheinungen zurück in die letzte und 
einzige Gewißheit des lebendigen Menschenichs. 
Er bedeutet die Besinnung darauf, daß die Welt 
der Traumkraft der Seele bedarf, und daß es 
dieses Idealisierungsvermögen der Seele ist, das 
die Menschenperson instand setzt, sich gegen 
den Anschwall der umgebendenTatsächlichkeiten 
aufrecht zu erhalten. 
Auch in Holland bedeutet darum das Auf** 
kommen der neuen Kunst nicht den Anbeginn 
der Entartung. Nein, im Wirrsal schnurrte das 
Geschehen durcheinander, da die grauen Ge 
meinplätze der „positiven" Wissenschaften in 
Europa ihre Herrschenszeit hatten. Die neue 
Kunst stellt die Genesungsanstrengungen der 
Seele dar, die verständlicherweise unter der 
Form des Fiebers verlaufen, denn die heilenden 
Kräfte können nur aufblühen, wenn wie Ackere 
erde das Menschentum bis in seine tiefen Unter 
gründe aufgebrochen und umgeworfen wird. Wie 
reich an frischen, von der Wirklichkeitszivilisie- 
rung noch nicht angetasteten, nicht ausgelaugten 
Kräften die holländische Geistigkeit ist, zeigt das 
Ereignis Vincent van Gogh und das Auftreten 
der vielköpfigen Reihe der nach ihm Kommenden. 
Mit ihnen nimmt es Holland vor, bei sich selber 
zur Umkehr und Erneuerung aufzurufen, bei 
sich selber das totenhafte Gerüste der Wirklich 
keit von gestern vollends niederzulegen, mit 
ihnen aber schließt Holland sich zugleich den in 
allen Ländern Europas, hier erst schwächer, dort 
schon stärker, tätigen Umwälzungsmaßnahmen 
an, derart aufs innigste bezeugend, daß dieses 
Erteils geistiges Schicksal ein einziges und ge 
meinsames ist. 
Denn die Kunst ist ein Erlebnisring, der ober** 
halb und jenseits der Nationen kreist und der, 
selbst wenn der Künstler in seiner eigenen kleinen 
Person sich dagegen sträuben sollte, das Emp** 
finden der Abermillionen hienieden zur Mitte 
und zur Einheit lenkt. Nationale Färbungen 
vermehren die Fülle der Erscheinungen,- sie ver** 
mögen nicht Scheidewände aufzurichten, nicht 
einander in Widerspruch zu setzen. Die Sehn 
sucht des menschlichen Bewußtseins will in ein 
leidenschaftliches Einsgefühl zusammenwachsen, 
damit sich die Ichkraft aller immer erneut zu un** 
erhörten, träumeträchtigen Willensaufschwün^ 
gen vereinigen kann. Die Kunst leuchtet den 
neuen Traummöglichkeiten als erste voran,- sie 
ist die letzte leuchtende Fußspur, die von ver 
gangenen Traummöglichkeiten übrigbleibt. 
Die sittlich erzieherische Sendung der Kunst 
innerhalb des Menschendaseins, an die seit der 
Mitte des vorigen Jahrhunderts erst einzelne, 
dann immer zahlreichere Stimmen erinnert haben, 
dringt auch in Holland wieder mit aller Macht 
zur Erkenntnis. Sie leben wohl in ihrem eigenen 
Reich, die schönen Leinenwände, Gedichte und 
Standbilder, aber dieses Reich ist nicht das der 
Nippsachen und beiseite gestellten Andenken 
stücke in der Sonntagsstube, die während der 
übrigen sechs Werktage verschlossen bleibt, oder 
ein Reich von genäschigen Gehirnausschweifun 
gen, die zu nichts verpflichten, sondern dieses 
Reich übt eine heischende und aufrüttelnde Ge 
walt aus: Es ist die geistige Wirklichkeit gegen 
über der natürlichen Wirklichkeit, es ist das
	        
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