304
II.
Seit dem siebenten Jahrhundert begann unter der Regierung der Chou die innere Zersetzung
des chinesischen Reiches. Wie unter den beiden vorausgegangenen Dynastien Hia und Chang
wurde die kaiserliche Zentralgewalt immer mehr zum Schatten vor der Selbständigkeit der Landes
fürsten, gegen die sich, das Beispiel ihrer Untreue nachahmend, die großen Vasallen erhoben,
denen schließlich auch die Kleinen den Gehorsam kündigten,- während barbarische Nomaden*
Stämme die Grenzen bedrohten, löste sich der Feudalstaat in das Chaos seiner Atome auf. Wenn
aber auch der Kaiser seine realpolitische Macht verlor, seine Würde als Haupt des geistigen
Lebens blieb unangetastet. Er war der Sohn des allumfassenden Himmelsgottes Schangti, dem
er allein nach dem Gesetz des Ahnenkultes als Pontifex Maximus das Staatsopfer darbringen
konnte. Er war von seinem göttlichen Ahnherrn mit der religiösen und politischen Führung des
von dem Weltgott auserwählten chinesischen Volkes betraut, welches Schangti als seinen National*
gott verehrte. Und er hatte als Stellvertreter des Himmelsherrn auf der Erde das Nationalgesetz,
das Tao, welches, wie das brahmanische dharma, als Abbild des kosmischen Gesetzes in der
Menschenwelt betrachtet wurde, als das allgemeine Menschheitsgesetz über die ganze Erde zu
verbreiten.
Das auseinanderfallende Reich von neuem auf der Grundlage seines Tao zu einigen, war die
Mission Kungtses, der ein Jahr nach der Schlacht bei Platää starb. Eine fünffache sozialpolitische
Bindung schrieb dieses Tao vor: die des Dieners an den Herrn, des Freundes an den Freund, der
Gattin an den Gatten, der Kinder an die Eltern und der Untertanen an den Kaiser. Dazu aber
kommt eigentlich noch eine sechste, weltpolitische Bindung, die aller Völker der Erde an die
chinesische Nation ,■ denn an imperialistischem Machtwillen stand dieselbe keinem derVölker Asiens,
dieser Heimat des Weltreichgedankens, nach. Um den Kaiserlichen Zentralstaat gruppieren sich
die Lehnsstaaten, darüber hinaus verlieren sich in unabsehbarer Ferne die Barbarenstaaten, die zwar
ihr home rule besitzen, deren Rechtsgrundsätze aber vom Lohn des Himmels emanieren und
überwacht werden. Denn es soll nur Eine Herde und Ein Hirt, nur Ein Weltstaat und Eine
Weltreligion sein. In dreifacher Tätigkeit hat Kungtse für die Wiederbelebung der von Schangti
geoffenbarten nationalimperialistischen Religion des Tao gewirkt. Als Minister des Fürsten von Lu
am Kaiserkanal, dessen Land er so vorbildlich reformieren wollte, daß alle Einzelstaaten durch
sein Beispiel zur Nachahmung hingerissen würden. Dann kodifizierte er sammelnd und sichtend
als der Esra Chinas die fünf heiligen Schriften der Nation, zu denen später noch als kanonische
Ergänzung die vier klassischen Bücher aus seiner Schule kamen. Und endlich gründete er eine
Schule, welche die lebendige Trägerin des historischen religiös*politischen Nationalbewußtseins
werden sollte, wie er es für sich selbst wieder gefunden hatte.
Kungtse, der selbst dem Kaiserlichen Geschlechte der gestürzten Chang entstammte, ist der
Philosoph der historischen Legitimität. Sein sozialpolitisches Ideal war der feudalaristokratische
auf dem Familienprinzip beruhende Lehnsstaat, wie ihn der Gründer der Choudynastie, der von
Kung so bewunderte Kaiser Wu Wang und sein noch bedeutenderer Bruder, Fürst Chou von Lu,
nach dem Vorbild der beiden ersten Dynastien wieder hergestellt hatten. Ein messianischer
Glaube an den kommenden kaiserlichen Restaurator Imperii erfüllte ihn, als dessen Verkündiger
er unter der Inspiration der Idealkaiser der Vergangenheit sein Werk der nationalen Renaissance
schuf. „Wenn er in seine Schüssel sah, erblickte er yau und wenn er an die Wand sah, Chun."
Die Erneuerung des Staates aber konnte in Kungs Augen nur von der Wiedergeburt der aristo*
kratischen Herrenrasse kommen, die in dem Tao ihr eigenes Lebensgesetz ausgesprochen hatte.
Er wendet sich nicht an das Volk sondern an Fürsten und Adel. Der Chüntsi, sein Menschen*
ideal, der dem Gentleman, dem honnete homme des XVII. Jahrhunderts und dem Kalos Kaga*
thos der griechischen Aristokratien entspricht, ist der in der Religiosität des aktiven Tao erzogene