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Sie hat viele Namen. Der eine ist: Kwannon. Immer ist sie allein, denn jeder nimmt nur von
ihr, keiner gibt. Es ist beinahe grausam für die Menschen ihr nichts geben zu können, und so
geben sie ihr kleine Reiskuchen und Öllämpchen und Blumen,- bisweilen wohl auch ein kleines
Gelübde. Aber das ist so wenig und so hart, wie wenn man einer Dirne Geld gibt. Nennt Ihr
nicht auch sie eine Dirne, mit der Eure arme geknechtete Seele hurt? Ja ein himmlisches Freuden
mädchen ist sie.
Immer ist sie allein, aber nie einsam, wie ihre irdischen Schutzbefohlenen. Niemals einsam,
denn sie wurzelt im Himmel wie wir in der Erde wurzeln und ihr Haupt hängt tief herab, sowie
die Wipfel der Bäume in die Lüfte hinauf ragen. Deshalb sieht sie immer herab, nicht herauf
wie wir. Deshalb hat ihr Leib nicht die Schwere der Last, sondern die Leichtigkeit des ewigen
Schwebens. Deshalb schreiten ihre Beine nicht, sondern es ist wie das Gleiten des Windes über
Wolken oder durch die Flügel eines Vogels. Wahrlich, sie ist ganz entbunden. Mit einem ein
zigen Schritt umgeht sie die Welt, mit einem einzigen Augenaufschlag streichelt sie Osten und
Westen. '
Die Seele, die hinaufsteigt, vergißt alles. Die Seele, die heruntersteigt, weiß alles. Sie ging,
um wieder zu kehren, sie wurde erlöst, um gesandt zu werden. Sie wanderte durch Jahrtausende,
durch jede Lust, durch jede Sünde, durch jedes Glück, durch jede Not, durch jede Verzweiflung,
durch tausend Tode hindurch und was noch schlimmer ist, durch tausend Leben. Bis sie alle Welt
selber wurde. Da blieb kein Rest mehr und kein Gegenteil. Und so wurde sie das Nichts.
Und damit ist sie wieder alles. Und kehrt zurück. O, nicht als Ausgestoßene und Verfluchte,
nicht als Gast, vielleicht nicht mal aus Liebe oder aus Lust an dem Kleinod der strahlenden End^
lichkeit. Wohl nur, weil die Welt nicht mehr ihren Schoß trägt, sondern weil ihr Schoß die Welt
birgt. Ein ungeheuerer Schoß und doch so sanft in der Schwellung, als ob die ganze Welt nur
ein kleines Kind wäre, das sie so winzig trägt. Muß nicht der leise Zug ihres Atems durch die
ganze Welt gehen in einem einzigen Atemzug? Muß nicht ein kleines Berühren von Gotteshand
vielleicht an ihre Schläfen oder an ihre Brüste wie das Aufbrechen der Frühlingsstürme durch die
Erde gehen? Und ein leiser Notschrei irgendwo in der Welt — ja, er fliegt durch sie hindurch —
und sie vernimmt die Triebe der Welt wie eine Mutter in ihren Brüsten fühlt, wenn dem Kindlein
hungert und dürstet.
Ihr Eingang in Gott und ihr Heimgang zu Erde das ist ein- und dasselbe. Nur wir vermögen
es nicht zu denken, denn wir kennen immer nur das Eine am andern. Für sie gilt nicht mehr
rein und unrein, nicht mehr schön und häßlich, nicht mehr keusch oder unkeusch, nicht mehr traurig
oder vermählt, nicht mehr verworfen oder begnadet, nicht mehr irdisch hier und himmlisch dort.
Ja diese Seele braucht nicht den Leib zu suchen, denn sie ist selbst Aller erwählter Leib. Sie
ist Kwannon. Das ist der strahlende Leib der Seele.
O, sie kann in Klöster gehen, in die tiefe Abgeschiedenheit, auf die fernen Inseln im Getriebe
der Welt. Dort wird sie blühen,- aber nur wie ein Wunder ihrer selbst. Nur immer sich selbst
zur Lust wie eine kostbare Blume in Gottes Garten. Aber dorthin geht sie nicht, denn sie weiß,
das ist noch voller Flucht und voller Selbstwissen. Sie aber blüht über den Frühling Gottes
hinaus alle Jahreszeiten hindurch,- sie blüht inniger und uferloser: Sie brennt. Sie verblüht nicht
und sie verbrennt nicht. Sie ist eine ewige brennende Blüte.
Deshalb ist sie dort wo Menschen sind. Wo Menschen am heißesten brennen, wo Menschen
am niedrigsten, wildesten und ganz schwach und vertrieben sind. Überall draußen, wo vor den
Mauern des Paradieses unsere Erde liegt. Dort wo Menschen am heißesten blühen,- wo Not
lockt, wo Aufschrei zittert, wo der Leib irrt und das Gebet ruft. Wo die Herzen herausspringen
aus ihrer Enge, wie junge Pferde aus dem Stall,- wie Mädchen aus der Obhut ihrer Eltern, wenn
das Blut zu Blut will,- wo das Entsetzen erster Enttäuschung verbittert. Siehe, da ist sie. Diese