Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

62 
es mir in den Sinn gekommen, in dieser Begabung die Grundlage zu meinem späteren Beruf zu 
sehen. So reiste ich also aufs Geratewohl im Frühjahr 1898 nach München, mietete dort ein kleines 
Zimmer und der verstorbene Sdhmkh>Reutte nahm mich in seine Privatschule auf. Dort zeichnete 
ich sehr fleißig Akte und Köpfe und Schmidt blieb eigentlich mein einziger Lehrer, denn daß ich 
nach zwei Jahren in die Zeichenklasse Gysis eintrat, geschah mehr auf Anregung meines Vaters, 
denn er wünschte, daß ich eine staatliche Anstalt besuchen sollte. Ehe ich nach München kam, 
hatte ich noch nie mit Bewußtsein ein gutes Kunstwerk gesehen. Heiligenbilder langweilten mich, 
und ich konnte mir nicht vorstellen, daß man so etwas mit Lust machen könne. Als ich am zweiten 
Tage meines Münchener Aufenthaltes zum ersten Male im Leben eine große Galerie, die Alte 
Pinakothek, betrat, war das ein bedeutendes Ereignis für mich. Ich war wie aufgelöst vor Seligkeit 
und Erstaunen und wagte nur auf den Fußspitzen von einem Saal in den andern zu gehen. 
Über meine Studien in diesen ersten beiden Münchner Jahren läßt sich nicht viel sagen. Ich 
arbeitete rechtschaffen wie alle anderen nach dem straffen System unseres vorzüglichen Lehrers, der 
hauptsächlich auf das Erkennen der richtigen Maße und Verhältnisse und der Grundlage von 
plastischer Anatomie beruhte,- verpönt war jeder Tonschwindel, jedes Abenteuern in Schatten= 
effekten und Glanzlichtern. 
Als ich nach zwei Jahren in die Gysis^Klasse der Akademie eingetreten war, fand ich auch den 
Weg zu meiner eigentlichen künstlerischen Bestimmung. Aber nicht etwa auf der Akademie, 
sondern auf andere Weise. 
Ich hatte den ungeheuer starken Eindruck, den mein erster Besuch der Pinakothek auf mich 
gemacht hatte, nicht vergessen, doch aus der unbegrenzten Hochachtung, die ich für die alten 
Meister hegte, war eine tiefe Niedergeschlagenheit entsprungen. Ich war sehr bedrückt und ergab 
mich, um den Katzenjammer zu ersticken, allen möglichen Ausschweifungen und Zerstreuungen, 
worauf alles nur noch schlimmer und grenzenlos widerlich wurde, bis ich wieder bei meiner alten 
Liebe, der Philosophie, Zuflucht suchte. 
Ich geriet wieder an Schopenhauer und las in wenigen Tagen seine wichtigsten Werke mit 
stürmischem Eifer. In meiner trostlosen Stimmung fand ich, daß die pessimistische Weltanschauung 
die einzig richtige sei und schwelgte in diesen Ideen, wodurch meine allgemeine Unzufriedenheit 
nur gefördert wurde. In toller vergrübelter Stimmung notierte ich meist auf einem Papier, im 
Englischen Garten, allerhand philosophische Einfälle und schließlich ersann ich eine seltsame 
Kosmogonie, die den Titel: »Der Sohn als Weltenwanderer« führte,- und mit den philosophischen 
und poetischen Einzelaufführungen des »Sohnes als Weltenwanderer« füllte ich oft in nächtlichen 
Stunden Dutzende von Heften. Als dieses hitzige Stadium sich erfüllt und ausgetobt hatte, bekam 
ich eine starke Halsentzündung, die mich mehrere Tage ans Zimmer fesselte. In dieser Zeit 
zeichnete ich viel und brachte spukhafte Einfälle und Karikaturen zu Papier, die so recht meiner 
elenden Stimmung entsprachen. 
Ich hatte damals noch einen Sonderfreund, den ich hier erwähnen muß, einen sehr intelligenten 
Musiker. Als dieser mir einen Krankenbesuch machte, sah er auch meine neuen Blätter. Er sagte, 
daß sie ihn in Manchem an Klingersche Radierungen erinnerten, welche er mir als Vorbilder auch 
sehr empfahl. So kam es, daß ich gleich nach meiner Genesung das Kupferstich-Kabinett auf 
suchte und den radierten Zyklus über den »Fund eines Handschuhs« sah. Sah und vor Wonne 
zitterte. Mit noch übervollem Herzen schweifte ich in der Stadt umher und betrat abends ein 
Variete, denn ich suchte eine gleichgültige und doch geräuschvolle Umgebung, um einen inneren 
Drück, der immer heftiger wurde, auszugleichen. Es ereignete sich dort etwas sehr Merkwürdiges 
und für mich Entscheidendes, das ich heute noch nicht ganz verstehe, obwohl ich sehr viel darüber 
nachgedacht habe. Als nämlich das kleine Orchester mit dem Spiel begann, erschien mir auf einmal 
meine ganze Umgebung klarer und schärfer wie in einem anderen Licht. In den Gesichtern der
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.