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Da kam im August 1914 das Schreckliche. Welcher Künstler, ja überhaupt welcher Mensch hätte
zu prophezeien gewagt, daß eine solche Flut von Hass, Wut und Starrsinn, wie sie nun herein
brach, noch möglich wäre? Wie Aasgeruch umwehte es mich in meiner einsamen Lage, und eine
entsetzliche, langwährende Trauer und Niedergeschlagenheit ließen mich die ersten vier, fünf
Monate des Krieges nicht mehr los. A. v. Heymel, Scheerbart, Max Dietzel, Weißgerber und viele
jüngere Bekannte, das Ende aller dieser wurde durch diesen unausdenkbaren Wahnsinn hervor^
gerufen oder beschleunigt.
Von Zeit zu Zeit gab ich mir einen energischen Ruck und fand dann wohl auch das großartige
der stillen, förmlich entvölkerten Landschaft, in der ich lebe. Ich sammelte meine Kräfte und’ machte
in den Jahren 1915/16 meinen »Totentanz« nach Einfällen, die ich seit langer Zeit mit mir herum
trug und die immer einfacher wurden. Ich wählte 24 Blätter aus dem ganzen aus, und diese Folge
wird von Bruno Cassierer in Berlin verlegt werden.
Äußere Zerstreuung, eine Reise oder einen Freundesbesuch konnte ich mir nicht schaffen, weil
der Schutzmann, diesmal als Kriegsgott drapiert, jedem derartigen Versuch Schranken entgegensetzte.
Die verborgene, zusammengepreßte Wut mußte sich jedoch irgendwie Luft schaffen und ein paar
traurige Zufälle gaben den Anlaß zu jener wunderbaren Krise, die ich jetzt schildern will. Auf
einer Unglückspostkarte wurden mir gleich zwei schreckliche Nachrichten mitgeteilt, der Schlachtentod
meines lieben Kollegen Franz Marc und der Selbstmord durch Gift einer mir bekannten Dame in
Paris. Ich las in jenen Tagen gerade das sehr eindringlich abgefaßte Werk über die Lehre Buddhas
von Hermann Grimm. Meine seelische Erschütterung stürzte sich nun, lawinenartig anwachsend,
auf das Nächste, auf den Buddhismus. In wenigen Stunden belebte sich mir diese alte Lehre so
unerhört plastisch, so hinreißend, daß mir alles übrige »Schleier der Maja« wurde, mein Denken
und Schaffen zum Wissenswahn, mein Leben zum Daseinswahn.
Ich zog mich von meiner Umgebung, selbst von meiner Frau, zurück, brach allen Briefwechsel
mit Verwandten und Freunden ab und machte einige letzte Verfügungen über meinen Besitz, der
mir, wie meine Kunst ganz gleichgültig, fremd geworden war. Meine Frau bat mich, wenigstens
im Hause zu schlafen, und so richtete ich mir einen kleinen Raum, in welchem ich nur einen Strohsack
und einen Waschtisch ließ, als »Zelle« ein. Meist war in mir eine eigentümliche süße Leichtigkeit,-
sehr früh erhob ich mich, säuberte meine Kleider und machte in der Zelle, die außer mir niemand
betreten durfte, Ordnung. Ich aß weniger als sonst, möglichst kein Fleisch, und wanderte stunden^
lang bei jedem Wetter umher. Einmal entfernte ich bei Regen tausende von Würmern von der
Landstraße, damit sie nicht umkämen. Ich war meist sehr glücklich, vor jeder Zerrissenheit gefeit,
und erlebte in einer Dauerekstase solche Ungeheuerlichkeiten, wie ich sie mir früher oft für meine
Bilder ausgedacht hatte und wie sie die Legende etwa dem Heiligen Antonius zuschreibt. Manchen
Tag war in mir ein fortwährendes Hallen von vielerlei Schritten, die sich näherten oder entfernten,
ein Sausen, Schreien und Gebrüll wie von einer großen Menschenmasse. Sprach ich mit Leuten,
so bekam alles einen Doppelsinn, das gewöhnlichste, alltäglichste war merkwürdig. Steine, Kot
haufen, Baumstämme u. dergl. waren von einer so ungeheuren Formkraft erfüllt, daß ich, obgleich
mir froh und lind zumute war, kaum hinzusehen wagte, weil alle diese Gegenstände mir wie
Gespenster und Larven vorkamen, die mich angrinsten. Die tollsten unwahrscheinlichsten Vorgänge
eignen sich nicht zur offenen Mitteilung, sind in vielen Fällen überhaupt nicht schilderbar.
Kaum zu beschreiben sind auch die Nächte. Grimms Buch legte ich schon in den ersten Tagen
beiseite und griff zu der Sammlung der Reden Buddhas, die ich schon besaß. Ich las daraus am
Abend ein oder zwei Suttas, löschte das Licht, und — indem ich die empfohlenen Atemübungen
begann, blieb ich in tiefster Betrachtung versunken, meist ausgestreckt auf dem Rücken liegend bis
zum grauenden Tag. Geschlafen habe ich diese ganze Zeit niemals, doch umfing mich öfters ein
angenehmes weiches Dämmern.