Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

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Alfred Kubin: DER UNTERGANG DES TRAUMREICHES (Die Hölle) 
Es war rätselhaft, woher dieser überschwengliche Reichtum an Tieren kam. Sie waren die eigentlichen Herren 
der Stadt und hielten sich augenscheinlich auch dafür. Wenn ich im Bette lag, hörte ich ein Laufen und Hufe* 
klappern, als wäre ich in einer großen Stadt. Kamele und wilde Esel durchwanderten die Straßen,- es war 
gefährlich sie zu necken. 
Im Gegensatz zu diesem animalischen Reichtum schwand das Pflanzenleben immer mehr, alles war abgenagt, 
zerstampft, ohne Vegetation. Die Lindenalleen an der Landstraße und in der Richtung des Friedhofes bestanden 
nur noch aus kahlen Baumstümpfen. Die Erde dampfte, als wollte sie noch mehr Kreaturen ausspeien. Aus 
kleinen Löchern 
strömte ein warmer, 
sauerriechender 
Dunst. In eine ei* 
gentümlich, alles 
verwischende Däm* 
merung waren die 
Nächte gehüllt. 
Das Unheimlichste 
war ein rätselhafter 
Prozeß, der mit dem 
Überhandnehmen 
der Tiere begann,- 
unaufhaltsam und 
immer rascher zu* 
nahm und die Ur* 
sache zum völligen 
Untergange des 
Traumreiches wur* 
de. — Die Zerbrö* 
ckelung. — Sie er* 
griff alles. Die Bau* 
ten aus soverschie* 
denem Material, die 
in Jahren zusam* 
mengebrachten Ge* 
genstände, all das, 
wofür der Herr sein 
Gold hingegeben 
hatte, war der Ver* 
nichtung geweiht. 
Gleichzeitig traten 
in allen Mauern 
Nietzsdiesäule 
Sprünge auf, wurde 
das Holz morsch, 
rostete alles Eisen, 
trübte sich das Glas, 
zerfielen die Stoffe. 
Kostbare Kunst* 
schätze verfielen un* 
widerstehlich der in* 
neren Zerstörung, 
ohne daß sich ein 
zureichender Grund 
dafür angeben ließ. 
Eine Krankheit 
der leblosenMaterie. 
— Moder undSchim* 
mel gab es in den 
bestgehaltenenHäu» 
sern,- es mußte ein 
zersetzender, unbe* 
kannter Stoff in der 
Luft liegen, denn 
frische Speisen, 
Milch, Fleisch, spä* 
ter auch Eier wur 
den in einigen Stun* 
den sauer und faul. 
Viele Häuser bar* 
sten und mußten 
schleunigst von den 
Inwohnern verlas* 
sen werden. 
Dazu kamen die 
Ameisen! In jeder 
Ritze und Falte, in den Kleidern, im Portemonnaie und im Bette fand man sie. Man unterschied schwarze 
weiße und blutrote. Die schwarze, größte Art, fand sich in allen Mauersprüngen und im Freien, wohin immer 
man seinen Fuß setzte. Die weißen, weit gefährlicheren, verwandelten das Gebälk in Mehl. Die ärgsten waren 
ohne Frage die roten,- denn sie erkoren sich den menschlichen Körper zum Aufenthalt. Anfangs galt das 
Kratzen noch für unanständig, man machte das privat mit sich alleimab. Doch was will einer tun, wenn es 
ihn juckt? Im französischen Viertel kratzte schon längst jedermann. Wir lachten und taten bald dasselbe 
Die Gattin Sr. Exzellenz des Regierungspräsidenten ging gelegentlich einer Soiree mit kühnem Beispiel voran. 
Der Unrat der Tiere auf der Gasse und der Staub in den Wohnungen war nicht mehr zu entfernen. Es 
wurde immer mehr, so verzweifelfttian auch dagegen ankämpfte, Während desBürstens und Klopfens zerfielen 
die Kleider. Mich wunderte nur, woher die Traummenschen noch immer ihre gute Laune schöpften.
	        
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