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das Geistige höher als das rein Naturalistische zu schätzen, ver-
mag er durch die Zeichnung leichter die geistige Persönlichkeit
auch des naturalistischen Künstlers zu erkennen.
Wenn wir uns vergegenwärtigen wollen, wie ein Künstler selbst
die Entstehung des Kunstwerkes empfindet, so geben uns die
Worte des berühmten Landschafters Caspar David Friedrich
einen tiefen Einblick: „Willst Du Dich der Kunst widmen,
fühlst Du inneren Beruf, ihr Dein Leben zu weihen, oh! so
achte auf die Stimme Deines Inneren, denn sie ist die Kunst in
uns... Heilig sollst Du halten jene reine Regung Deines
Gemütes, heilig achten jede fromme Ahndung: denn sie ist
Kunst in uns. In begeisterter Stunde wird sie zu anschaulicher
Form, und diese Form ist Dein Bild! Schließe Dein leibliches
Auge, damit Du mit Deinem geistigen Auge zuerst sehest Dein
Bild! Dann fördere zu Tage, was Du im Dunkel gesehen, daß
es zurück wirke auf andere, von außen nach innen.“
Um einen Blick in das Verhältnis von Geist und Natur, von
Idealismus und Naturalismus, auch in früheren Epochen zu
gewähren, werden einige ausgezeichnete Beispiele mittelalter-
licher Buchmalerei vorgeführt. Aus der Handschriftenabteilung
der Nationalbibliothek sind vierundzwanzig illuminierte Hand-
schriften vom 8. bis zum Anfange des 16. Jahrhunderts aus-
gestellt, ferner Einblattdrucke und Schrotblätter des 15. Jahr-
hunderts aus der Albertina.
Einige Säle enthalten Werke der österreichischen lebenden
Kunst. Es sind dies Kollektionen einerseits von Künstlern, die
die schwere Nazizeit im Ausland verlebt haben, wie Kokoschka,
Ehrlich, die noch in London leben, uns aber freundlich
Werke zur Verfügung gestellt haben, Wotruba, der die Kriegs-
jahre über in der Schweiz gearbeitet hat, nun aber wieder nach
Wien zurückgekehrt ist und bei dieser Ausstellung eifrig mit-
gearbeitet hat, andrerseits von Künstlern, die die brutale Unter-
drückung der sogenannten „entarteten Kunst“ in der Heimat