Volltext: Die weissen Blätter (3(1916),1)

Theodor Däußfer - Simuftanität 
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heute simultanistisch nennen mögen, gehen wahrscheinlich auf Delaunay 
zurück. Das erste Bild, das sich »Simultane Visionen« nannte, ist 
von Umberto Boccioni, der somit das Wort zuerst in dieser Auf* 
fassung gebraucht hat. Es sollte eine Feier der Geschwindigkeit, des 
modernen Großstadtbetriebes, einen neuen Fieberzustand, erwecht 
durch die wissenschaftlichen Errungenschaften, zusammenfassend be* 
zeichnen, Simuftanität, heißt es bald darauf in einem Futuristenmani* 
fest, ist die Bedingung, unter der die verschiedenen Elemente, die 
den Dynamismus ausmachen, in Erscheinung treten, 
Marinetti schrieb darauf eine Abhandlung über Simuftanität in der 
Dichtung, Wir brechen ab, 
Richard Wagners Ideal vom Zusammengehen von gesungenem 
Drama, Orchester und Plastik bedeutet den entscheidenden Schritt im 
Sinne der Simuftanität, Der Futurist Luigi Russolo sieht in der 
Musik überhaupt ein Prinzip der Simuftanität, das er ganz er* 
schließen will. 
Möglicherweise wird ein bewegter Stil zuletzt in der Baukunst 
durchbrechen: damit hat's auch keine Eile, Im Gegenteil, lassen wir 
die klassizistische Richtung ruhig Oberhand gewinnen: vor allem tut 
Gesundung, Beruhigung not. Freilich, etwas wie Kantenbarodc hängt 
längst in der Luft: was wird man dereinst noch in Eisenbeton gießen! 
Die Phantastik mag kommen, aber erst wenn sie, weil ihr Stil bereits 
vorhanden, selbstverständlich emporraketen und sich abstrakt verblät* 
tern kann. 
Ein gotisches Element mag immer bei uns zugegen sein, oft hält 
man aber für gotisch, was viel eher barock ist. Jeder sollte sich selbst 
darin einer Prüfung unterziehen: am besten nimmt man Bücher von 
Gurlitt, von Wölfflin oder Riegl vor. Eine Klärung ist da sehr rat* 
sam: gegen Barock besteht vielfach ein hergebrachter oder auch ge* 
dankenloser Widerwille, der unberechtigt ist. Leider sind gerade die 
Jüngsten in diesem Vorurteil befangen. 
Selbstredend sind Bezeichnungen wie gotisch und barock auch hier 
nur vorläufige Hilfsausdrücke. Der neue Stil ist zwar im Keimen, 
aber noch nicht da,- wir können daher bloß annähernd mit geläufigen 
Worten kennzeichnen, was wir meinen. So gleicht man den Eltern, 
die schon vor der Geburt des erwarteten Kindes streiten, welchen
	        
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