Volltext: Der Ararat (1 (1920), 8)

FRANKREICH. 
Guillaume Apollinaire. Über die An^ 
fänge des Kubismus. 
Zu Beginn des Herbstes 1902 wohnte ein 
junger Maler, de Vlaminck, auf der Insel La 
Grenouillere und malte die Brücke von Chaton. 
Er malte schnell, gebrauchte reine Farben, und 
sein Gemälde war fast vollendet, als er hinter 
sich jemand husten hörte. Es war ein anderer 
Maler, Andre Derain, der die Arbeit voller In* 
teresse betrachtete. Er entschuldigte seine Neu* 
gier damit, daß er ebenfalls Maler sei und stellte 
sich vor. Das Eis war gebrochen. Man sprach 
von Malerei. Maurice de Vlaminck kannte 
die Werke der Impressionisten Manet, Monet, 
Sisley, Degas, Renoir, Cezanne, die Derain 
noch nicht kannte. Man sprach auch von Van 
Gogh und von Gauguin. Es dämmerte, und 
im aufsteigenden Nebel disputierten die beiden 
jungen Künstler bis Mitternacht. 
Diese erste Begegnung war der Ausgangs 
punkt einer ernsten Freundschaft. Vlaminck, der 
stets auf der Jagd nach ästhetischen Selten 
heiten war, hatte während seines Aufenthaltes 
in den Dörfern am Ufer der Seine Skulpturen, 
Masken und holzgeschnitzte Fetische gekauft, 
die Neger im französischen Afrika hergestellt 
und Forscher nach Frankreich mitgebracht hatten. 
Zweifellos fand er in diesen grotesken und 
grob*mystischen Werken Ähnlichkeiten mit den 
Gemälden und Skulpturen, die Gauguin ge 
schaffen hatte, als er sich von bretonischen Kal* 
varien oder von den wilden Bildwerken Oze* 
aniens hatte inspirieren lassen. Wie dem auch 
sei, diese eigenartigen afrikanischen Bildwerke 
machten einen tiefen Eindrude auf Andre De* 
rain,- er bewunderte die Art der Bildner aus 
Guinea und aus dem Kongo, die dahin ge* 
langten, das menschliche Gesicht darzustellen, 
ohne ein anderes Hilfsmittel zu gebrauchen als 
das unmittelbar Geschaute. Die Vorliebe Via* 
mincks für diese barbarischen Negerskulpturen 
und die Gedanken Derains über diese bizarren 
Gegenstände mußten zu einer Zeit, da die Im* 
pressionisten endlich die Malerei aus den aka 
demischen Ketten erlöst hatten, einen großen 
Einfluß auf das Geschick der französischen Kunst 
erlangen. 
Zur gleichen Zeit lebte auf dem Montmartre 
ein Jüngling mit unruhigen Augen, dessen Gesicht 
dem Rafaels und dem Forains glich. Pablo Picasso 
hatte mit 16 Jahren eine Pseudo*Berühmtheit 
erlangt, indem er Bilder malte, in denen man 
einige Verwandtschaft mit den grausamen Ge 
mälden Forains entdeckte. Dann hatte er plötz 
lich auf diese Malweise verzichtet, um geheimnis* 
volle Bilder in tiefstem Blau zu malen. Er be* 
wohnte jenes eigenartige Holzhaus in der Rue 
Ravignan, wo vor ihm so viele Künstler gewohnt 
hatten, die heute berühmt sind. Dort lernte ich 
ihn 1905 kennen. Er war nur Wenigen bekannt. 
Sein blauer Mechanikerkittel, seine häufig grau 
samen Worte und die Fremdheit seiner Kunst 
waren auf dem ganzen Montmartre berüchtigt. 
Sein Atelier war vollgepfropft mit Bildern, die 
mystische Harlekine darstellten, mit Zeich 
nungen, auf denen man herumtrampelte und 
die jeder Beliebige mit sich fortnehmen konnte. 
Dieses Atelier war der Zusammenkunftsort aller 
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jungen Maler und aller jungen Dichter. 
In diesem Jahr begegnete Andre Derain dem 
Maler Henry Matisse, und aus dieser Be 
gegnung entstand jene berühmte Schule der 
„Fauves", der eine große Anzahl junger 
Künstler angehörte, die später Kubisten wurden. 
Im folgenden Jahr verband er sich mit Picasso, 
und diese Verbindung gebar unmittelbar den 
Kubismus, der die Kunst darstellte, neue Zu 
sammenstellungen zu malen mit Elementen, 
die nicht der Wirklichkeit des Sehens ent- 
9 • — 
stammten, sondern der Wirklichkeit des Be 
griffes. Jeder Mensch hat das Gefühl dieser 
inneren Wirklichkeit. In der Tat, man braucht 
nicht besonders gebildet zu sein, um zum Bei 
spiel zu begreifen, daß ein Stuhl, wie und wo 
man ihn auch hinsetzen möge, stets vier Beine, 
einen Sitz und eine Rückenlehne hat. Die ku* 
bistischen Gemälde von Picasso, Braque, Met* 
zinger, Gleizes, Leger, Jeangris usw. reizten 
den feurigen Matisse aufs tiefste,- getroffen vom 
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geometrischen Anblick dieser Bilder, auf denen 
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