ANHANG:
DIE ERWERBUNG DES MICHAELSALTARS
DES ZÜRCHER NELKENMEISTERS
(Zuerst erschienen in Blatt 1, 13. August 1929
der Neuen Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 1555)
Wenige Jahre nach der Ausstellung von schweizerischen und ober-
deutschen Tafelbildern des 15. und frühen 16. Jahrhunderts im Zürcher
Kunsthaus bot ein norddeutscher Antiquar als neu entdecktes Werk
des Zürcher Nelkenmeisters eine Tafel von bisher ungewohnter Größe
an, in altem Rahmen fünfviertel Meter breit und eindreiviertel Meter
hoch, der Erzengel Michael im Fegfeuer als geharnischter Krieger
zwischen Teufeln und Larven. Eine kleine Photographie ließ vom
Aussehen des Bildes mehr erraten als erkennen. Nahe Verwandtschaft
mit den in der Ausstellung von 1921 viel beachteten Tafeln des Mei-
sters aus dem Schweizerischen Landesmuseum war aber offensichtlich.
Der Verkäufer deutete an, daß am gleichen Ort, in einem früher deut-
schen, seit dem Kriege polnischen Schlosse, noch einige ähnliche und
schönere Bilder sich fänden. Die Angaben waren aber wenig bestimmt
und der für die Ermöglichung einer Auslösung als notwendig bezeich-
nete Betrag ziemlich hoch. Das Zürcher Kunsthaus offerierte die
Kosten für die Überführung des einstweilen allein lockern Michael-
bildes nach Zürich. Im April 1926 traf es im Kunsthaus ein. Wenig
gepflegt und dumpf in den Farben, schien es in seiner Vereinzelung
mehr kunsthistorisch als künstlerisch wichtig. Es wurde zu einem
mäßigen Preis durch die Gottfried Keller-Stiftung erworben und im
Schweizerischen Landesmuseum deponiert. Am 24. Mai erhielt das
Zürcher Kunsthaus die Photographie einer zweiten Tafel, der Herab-
kunft des Heiligen Geistes auf Maria und die Apostel, be-
gleitet von der Erklärung, daß das Original einstweilen unerhältlich
sei, gleich wie ein zugehöriges drittes und viertes Bild, von denen Photo-
graphien erst versprochen wurden.
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