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Das Wort und das Bild.
Schwung unseres Zirkels, von dessen Teilnehmern einer den an
dern stets durch Verschärfung der Forderungen und der Akzente
zu überbieten suchte. Mag man immer lächeln: die Sprache wird
uns unseren Eifer einmal danken, auch wenn ihm keine direkt
sichtbare Folge beschieden sein sollte. Wir haben das Wort mit
Kräften und Energien geladen, die uns den evangelischen Be
griff des ,Wortes' (logos) als eines magischen Komplexbildes
wieder entdecken ließen.
Mit der Preisgabe des Satzes dem Worte zuliebe begann re
solut der Kreis um Marinetti mit den „parole in libertä“. Sie
nahmen das Wort aus dem gedankenlos und automatisch ihm
zuerteilten Satzrahmen (dem Weltbilde) heraus, nährten die aus
gezehrte Großstadtvokabel mit Licht und Luft, gaben ihr Wärme,
Bewegung und ihre ursprünglich unbekümmerte Freiheit wieder.
Wir andern gingen noch einen Schritt weiter. Wir suchten der
isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung, die Glut eines
Gestirns zu verleihen. Und seltsam: die magisch erfüllte Vokabel
beschwor und gebar einen neuen Satz, der von keinerlei kon
ventionellem Sinn bedingt und gebunden war. An hundert Ge
danken zugleich anstreifend, ohne sie namhaft zu machen, ließ
dieser Satz das urtümlich spielende, aber versunkene, irrationale
Wesen des Hörers erklingen; weckte und bestärkte er die un
tersten Schichten der Erinnerung. Unsere Versuche streiften Ge
biete der Philosophie und des Lebens, von denen sich unsere
ach so vernünftige, altkluge Umgebung kaum etwas träumen ließ.
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20. VI. In unserer Astronomie darf der Name des Arthur Rimbaud
nicht fehlen. Wir sind Rimbaudisten, ohne es zu wissen und zu
wollen. Er ist der Patron unserer vielfachen Posen und senti
mentalen Ausflüchte; der Stern der modernen ästhetischen Deso
lation. Rimbaud zerfällt in zwei Teile. Er ist ein Poet und ein