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Das Wort und das Bild.
10. VIII. Mit Emmy in der Kirche von Vira zur Abendandacht. Zu wie-
vielen Erscheinungen und großen Personen der Überlieferung
bietet die Kirche den einzigen Schlüssel. Rembrand z. B. ver
steht man nur in einer solchen katholischen Abendandacht, wo
eine einzige Kerze das ganze mystische Gewölbe erhellt. So
genügt ein einziger lichter Gedanke, den ganzen geistigen Raum,
die ganze geistige Nacht zu erhellen. Mein Bischofskostüm und
mein lamentabler Ausbruch bei der letzten Soiree beschäftigen
mich. Der Voltaire’sche Rahmen, in dem das stattfand, war dafür
wenig geeignet und mein Inneres nicht darauf vorbereitet. Das
Memento mori der katholischen Kirche gewinnt in dieser Zeit
eine neue Bedeutung. Der Tod ist die Antithese des irdischen
Wirrwarrs und Plunders. Das steckt einem tiefer als man weiß.
*
Auch die Kirche ist bunt und phantastisch — aber nur von
außen gesehen. Ihre (scheinbare) Phantastik rührt daher, daß
das Einfache so tief in sich versunken ist. Der oberflächliche
Beschauer vermag keinen Zugang zu finden, das Geheimnis bleibt
ihm verborgen. Die Beschäftigung mit dem Tod ist die zentrale
Sorge der Kirche. Das Todesproblem steht im Mittelpunkt aller
ihrer Betrachtungen. Über der Gruft und der Katakombe erhebt
sich der ganze, im Bild sich verblätternde Bau.
*
11. VIII. Wir haben das „Totenhaus“ von Dostojewski gelesen. Die
Katorga und jedes Gefängnis (die Schweiz ist ja auch nur ein
Gefängnis) erziehen, indem sie den Delinquenten begraben und
ihn sein altes, sein früheres Leben vergessen machen. Das Ge
fangensein leitet zum Gebet und zur Legende, zur Besinnung
und Umdichtung des früheren Lebens und des Daseins überhaupt
an. Die das Gefängnis erlebt haben, die Sträflinge dieser Zeit,
sollen es sich nicht verdrießen lassen. Sie sollen keine Bitter-