Von Gottes- und Menschenrechten.
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ist anzunehmen, daß das Mittelalter, auf das wir unsere Kultur
doch beziehen, eine diskretere Sprache führte und geneigt war,
immer dem andern eine odiose Überlegenheit wenigstens zu vin-
dizieren.
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Die Ausdehnung des Reiches unter den Staufen und Habs
burgern, die Bestreitung der Kirchenrechte unter Heinrich und
Barbarossa: das alles haben sich die modernen Vertreter der
kontinentalen Ansprüche wohl gemerkt. Aber das andere, geistige
Mittelalter: da soll seit Luther und Kant eine kopernikanische
Wendung eingetreten sein. Daß ein so großes Reich, wie sie es
erstreben, eine erschreckende Tiefe und Höhe der Begründung
voraussetzt, um zu bestehen, das übersehen sie, maßen sie alles
mit dem Säbel und der rohen Gewalt zu erbringen hoffen. Daß
es nicht nur Kaiser und Waffenzüge, Junker und Landsknechte
im Mittelalter gegeben hat, sondern auch Heilige, sehr viele,
Tausende von Heiligen, großen Philosophen und Juristen, davon
wollen sie nichts hören. Die bindende, die Liebesmacht im heiligen
und nicht nur römischen Reich, die soll ein für allemal zu ent
behren sein. Nur das Gemetzel, das Arsenal, der Raubzug und
das Zerschmettern sollen weiter leben. Daß das Mittelalter von
Gregor und Leo, von Thomas und Bernhard, von Franz und
Dominikus völlig durchlebt und durchlitten war; daß es, nach
einem Worte des Leon Bloy auf zehn Jahrhunderte der Extase
aufgebaut, von der höchsten Engelspitze bis hinunter ins Elend
reichte; daß das Militär aber nur eine Büttelrolle spielte —: das
wollen sie nicht wahrhaben und man würde sich lächerlich machen,
daran zu erinnern. Ein falscher Heldenbegriff, den die Renaissance
aufbrachte, hält sie besessen. Ihre vergröberten Organe können
die wesentliche Sprache des Mittelalters gar nicht mehr fassen,
geschweige denn verstehen. Das Wunder halten sie für eine
Illusion, das Zarte für Schwäche, die Armut für eine Schande.
Ball', Die Flucht aus der Zeit. 15