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nichts vorwegnehmen. Das ist eben die Geschichte des
Dadaismus. Dada ist über die Dadaisten gekommen,
ohne daß sie es wußten; es war eine conceptio immaculata,
deren tiefer Sinn mir hierdurch erschlossen wurde.
F~\ie Geschichte des Dadaismus ist in der Tat eins der
interessantesten psychologischen Ereignisse der letzten
fünfundzwanzig Jahre; man muß nur Augen haben zu
sehen und Ohren zu hören. Dada wuchs sich unter den
Händen der Herren in Zürich zu einem Lebewesen aus,
das bald alle Anwesenden um Haupteslänge überragte,
und dessen Existenzbedingungen sich bald nicht mehr
so genau normieren ließen, als eine geschäftsmäßige Fort
führung der dadaistischen Kunstrichtung das verlangte.
Was eigentlich Dadaismus war, hatte man trotz der
heißesten Bemühungen noch nicht herausgefunden. Tzara
und Ball gründeten eine „Galerie“, in der sie dadaistische
Kunst, d. h. „moderne“ Kunst, d. h. im Sinne Tzaras
ungegenständliche abstrakte Kunst in Bildern ausstellten.
Abstrakte Kunst war aber wie gesagt eine sehr alte Sache.
Picasso halle die Perspektive als Ausdruck einer intellek
tuellen und wissenden Auffassung der Welt schon vor
Jahren zugunsten jener archaisierenden mathematischen
Raumgestaltung aufgegeben, die er mit Bracques als Ku
bismus bezeichnete. Es lag in der Luft des alternden
Europa, mit einer letzten Willensanstrengung, die ihren
Impuls aus der Kenntnis aller Kulturen und Kunsttechniken
herleitete, zu den intuitiven Möglichkeiten zurückzukehren,
von denen, wie man begriff, vor Hunderten von Jahren
die Stilarten ausgegangen waren. Es ist kein Zufall, daß
die Romanen die Mystik der euclidischen Geometrie,
die Kegelschnitte und die mathematischen Größen, so
weit sie Symbole greifbarer Körperlichkeiten waren, in
ihr Programm einbezogen, während die Germanen den
akademischen Begriff der Intuition als Expressionismus
zum Reklameschild ihres künstlerischen Friseurladens