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In der Welt des Traumes und der Erinnerung wuchert undurchdringliches 
Dunkel und blüht reines Licht. Diese Dunkelheit und dieses Licht bedeuten 
jedoch nicht Tag und Nacht wie unser irdischer Tag, sondern sind eins mit 
dem Unendlichen. Wie Flammen und Wogen durchziehen die Toten und 
die Lebenden diese Welt. Sie ziehen unbeschwert durch die Räume und die 
Zeiten. Sie lösen Ebenbilder aus sich aus, die sich wie Echos vervielfältigen, 
sich freundlich zu ihnen gesellen oder sie feindlich verfolgen. Verwirrende 
Leiden und Freuden erwachsen daraus. Sie vertauschen ihre Gestalt mit der 
eines anderen. Sie vermummen sich. Tote begegnen sich wieder als Lebende, 
und Lebende ruhen seit langer Zeit im Grabe. Treffen wir diese Toten in 
unserer unwirklichen Welt des Tages an, so lachen sie und tun, als sei nichts 
dergleichen geschehen, und erzählen uns von nichtigen Geschäften. Auch 
wir Menschen des Tages werden in jener Welt mit dem Unendlichen eins. 
Sie malte die Seele des Traumes, die unsichtbare Wirklichkeit. Sie zeich 
nete lichte, geometrische Botschaften. Sie zeichnete Linien, die in grundlose 
Tiefen loten. Sie zeichnete ernste Linien, lachende Linien, weissglühende 
Linien, verwirbelte Linientänze, zackige Wirbel, Blitzgitter. Sie liess Linien 
wild um Linienbündel flackern, bis Linien und Linienbündel zu Blumen 
bränden aufflammten. Sie liess Linien um erstarrte Punkte wirbeln, plötz 
lich anhalten, sich hold besinnen und sich zu Formen zusammenschliessen, 
aus denen es glitzert wie ein Frühlingstag. Sie hat das goldene Strahlengebein 
der Sterne gemalt. Sie liess Punkte schamhaft erröten. Sie liess Punkte zu 
Beeren, zu riesigen Früchten, zu Sonnen anwachsen. Sie liess Punkte zu Asche 
zerfallen. Sie hat Perlen in weisse Beete gesät und daraus Monde gezogen. Sie 
hat Bahnen für selige Flüge gezeichnet. Sie hat das Leben der geschlossenen, 
nach innen singenden Augen gemalt. Sie hat den Umriss der Stille gezeichnet. 
Meistens begegne ich Sophie unter den Olivenbäumen des Mittelmeeres. Da 
spasst sie, wendet sich um, hüpft davon, schlägt mit den Armen wie ein Vogel 
mit den Flügeln, wendet sich wieder um und kommt auf mich zu. Ein anderes 
Mal bietet sie mir eine grosse Traube an, deren Beeren weinende Augen sind. 
Mit klaren Blicken begegnet sie meinen verwirrten Blicken. Sie hatte Träu 
me, von denen sie mir nie sprechen wollte. Sie verbarg sie mir hinter über 
triebenen, poltrigen Spässen. Sie ging dann im Kreise umher und ahmte einen 
stummen, jedoch eifrig blasenden Trompeter nach und liess sich um keinen 
Preis bestimmen, mir ihren Traum zu erzählen. 
Träume ich, wenn ich Sophie hell und still im Grunde der weissen Blüten 
blätter eines weissen lauteren Sternes erblicke? Träume ich, wenn ich Sophie 
sprechen höre und wir uns unterhalten? Träume ich, wenn ich Sophie als 
Tote holdselig lebend sehe? Die Erinnerung und der Traum fliessen ineinan 
der wie mächtige Ströme. Was in ihnen geschieht, hat ewigen Bestand. Was
	        
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