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Das Mass aller Dinge
Der Mensch beträgt sich, als habe er die Welt erschaffen und könne mit ihr
spielen. Schon ziemlich zu Beginn seiner glorreichen Entwicklung prägte er
den Satz, dass der Mensch das Mass aller Dinge sei. Schnell machte er sich
darauf an die Arbeit und stellte von der Welt, so viel er konnte, auf den
Kopf. In Stücke zerschlagen liegt die Venus von Milo am Boden. Mit dem
Mass aller Dinge, mit sich selbst, hat er gemessen und sich vermessen. Er hat
die Schönheit verschneidert und verschnitten. Aus der Masschneiderei wurde
ein Konfektionshaus, und aus dem Konfektionshaus ist heute eine Formen
schau der Tollheit geworden. Verwirrung, Unruhe, Unsinn, Wahnsinn,
Besessenheit beherrschen die Welt. Fötusse mit geometrischen Doppelköpfen,
Menschenleiber mit gelben Nilpferdköpfen, fächerförmige, berüsselte Misch
wesen, bezahnte Mägen an Krücken, schleppfüssige Pyramiden mit tränenden
Menschenaugen, Erdklumpen mit Schamgliedern und so fort, sind auf Lein
wänden oder in Statuen entstanden.
Die Schönheit versank nicht unter den Trümmern der Jahrhunderte
Als sich die Person, der Intellekt, die Philosophie aus der sagenumwobenen
Tiefe der mythischen Menschheit löste, als die Natur vom Menschen entdeckt
wurde, als “die Erde, das wogenreiche Meer, die feuchte Luft und der Titan
Äther” feierlich besungen wurden, weilte die Schönheit nackt unter den
Menschen.
Jedes Jahrhundert wandelte sich die Schönheit. Die Schönheit versank
nicht unter den Trümmern der Jahrhunderte, aber in der Maya, in den Trug
bildern. Sie wurde so reich beschenkt mit den seltensten Gewändern, dass sie
nicht mehr wusste, in welchen sich zeigen.
Welches ist das ursprüngliche Bild der Schönheit? Welches ist das Bild
“der Schönheit, die gequollen vom Quell ursprünglichen Bilds”? Ist es die
nackte Körperlichkeit der Griechen, ist es die Verkleidung, die Verschleie
rung, das Schauspiel der Renaissance, ist es die entkörperlichende Sehnsucht
der Gothik, ist es der Würfel und die Kugel, ist es die Liebe und die Harmonie
von der Empedokles sagt: “Da breiten sich nicht von einem Rücken zwei
Arme aus noch sind da Füsse oder schnelle Knie oder zeugende Glieder, son
dern es war ein Sphairos, von allen Seiten sich selber gleich.”