Volltext: 1914-1916 (1914-1916)

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as feuchtwarme Wetter dieses Herbstes und Winteranfangs suchte 
die Vegetation um ihre winterruhe zu betrügen, um das winter- 
leid des Frostes, das wohl bis ins Mark schmerzt, aber auch alles 
Schädliche tötet, das den ungestüm quellenden Saft, den unge 
duldigen Trieb zurückhält, aber dadurch auch bewirkt, daß sich die 
aufgespeicherte Lebenskraft doppelt sieghaft endlich entfaltet. 
Schon um die Jahreswende trieb und knospte es in allen Büschen; an geschützten 
Stellen wagten sich am Rosenstrauch, am Flieder- und Weidenbusch die neuen 
Spitzen weit hervor, an den Kastanien begannen die runden Knospen zu 
schwellen und in Hüllen zarter Kelchblätter sah man grüne Blütchen sich an 
kündigen. Mit Rührung nahm man dieses zage und doch hastige, dieses un 
natürlich frühe Erwachen gerade in dieser Zeit der Leiden wahr; aber auch 
mit Sorge. Denn der Winter liegt noch vor uns; man wußte stets, daß eine 
einzige Frostnacht die ganze Herrlichkeit eines zu frühen Lenzes vernichten kann. 
So wäre es jetzt auch gekommen, wenn die neuen Knospen nur um ein weniges 
weiter entwickelt gewesen wären. Der strenge Frost, der plötzlich eingesetzt hat, 
ist wie ein rötlicher Schreck über das allzufrühe Lenzesahnen gekommen. Viele 
Triebe hat er unerbittlich getötet und Wunden gemacht, die man im Sommer 
noch wahrnehmen wird; im allgemeinen aber kam er noch zeitig genug. Die 
meisten Knospen sind noch nicht so weit geöffnet, daß sie sich zu geduldiger 
Ueberwinterung nicht noch fest wieder zusammenschließen könnten. Der vor 
schnelle Trieb, der da glaubte, er könne dem letzten Sommer — einem der 
schönsten seit vielen Jahren — und dem golden reichen Herbst gleich einen 
neuen Frühling anreihen, schlüpft erschreckt nun wieder hinab in den schützen 
den Schoß der dunkeln Erde. 
Die Natur weiß nichts von Menschenschicksalen. Aber der Mensch betrachtet 
sich mit all seinem Tun und Lassen doch immer in ihr wie in einem Spiegel. 
Er ist hungrig nach Gleichnissen und lebt in Symbolen. Jeder Vorgang der 
Natur scheint ihm eine Maxime zu bergen, aus allem, was er sieht, zieht er 
unwillkürlich Lehren. Am meisten in einer Zeit wie dieser, wo die elementaren 
geschichtlichen Vorgänge den Blick wie von selbst zum Elementaren der Natur 
hinlenken. Darum konnte man in diesen Wochen nicht durch Gärten und Wälder 
gehen, ohne ein wenig zu allegorisieren. Denn auch die Völker gehen in stetem 
Wechsel durch die Jahreszeiten dahin in ihrem Iahrtausendleben. 
Unsere Nation erlebt jetzt einen ihrer strengen Winter. Doch auch sie steht 
erst im Anfang der winterleiden, und auch sie glaubt zu großen Teilen, es 
nahe schon wieder der Frühling. Auch in ihr will es ungeduldig wieder knospen, 
wo doch die letzte Ernte kaum herein ist, wo die Nester gieriger Raupenbrut
	        
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