Volltext: 1914-1916 (1914-1916)

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as Mittelalter lebte rational und logisch, ging von 
einem Bestimmten aus und kam zu einem Be 
stimmten: von Gott zu Gott. Es gab ein Ge 
meinsames, Vereinigendes: den Glauben und die 
Doktrin. Die Menschen waren Ln einer Gemein 
schaft verbunden. Unsere Zeit lebt besten Falles 
poetisterend und allogisch, geht von Nichts aus, 
um zu Nichts zu kommen: von Meinung zu Meinung. Denn es 
gibt kein Gemeinsames, sondern nur Trennendes: Meinungen und 
Vorurteile. Die heutigen Menschen sind in einer Gesellschaft ge 
trennt. Heutige Meinungen sind taub gegeneinander und schweigen 
sich tot: das nennt man Würde. Oder sie sind taub gegeneinander 
und schreien sich an: das nennt man Polemik. Das einzige Wichtige 
für eine Meinung ist eine gegnerische Meinung; ihre Existenzen 
bedingen einander; jede wünscht der andern längstes -Leben um ihres 
eigenen Lebens willen. Diesen um seiner selbst willen geführten Streit 
der Meinungen nennt man wissenschaftlich Evolution. Man hat 
sich zwar auf kein Gegenwärtiges nicht nur nicht geeinigt, sondern 
erklärt, daß es ein Gegenwärtiges überhaupt nicht gebe, ist aber 
trotzdem überzeugt, daß sich daraus was für die Zukunft ergeben 
würde. Angst vor der Vergangenheit, die wie das böse Gewissen 
quält, Schauder vor der Gegenwart: die beiden hetzen in die Hoffnung 
auf die Zukunft, in die zu evoluieren man als einzigen Sinn gegen 
wärtigen Lebens anspricht. In den Begriff der Evolution schließt 
sich der naturwissenschaftliche und falsche Begriff der Anpassung, 
dem alle, die vom Bösen dieser Zeit existieren, mit Eifer anhangen. 
Der natürlichen Entwicklung gelang es, sagen unsere Evolutionisten, 
die Blindschleiche durch Anpassung zu entwickeln; der sozialen Evo 
lution wird es gelingen, daß sich der Minengraber an die Nacht 
der Rohlen „anpaßt" wie sich der Plutokrat an die Börse angepaßt 
hat, wie sich der Perlenfischer an die Tiefste angepaßt hat und zum 
Tiefseetier werden wird. Der moderne „Triumph des Geistes über 
die Materie" besteht darin, daß der Mensch die ihn an die Materie 
anpassendsten Fähigkeiten entwickelt hat und weiter entwickeln soll; 
mit dem Geist unterjocht der heutige Mensch seinen Geist; denn
	        
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