Volltext: 1914-1916 (1914-1916)

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Aber sie kann es nicht. Sie kann es nur behaupten. Sie 
kann von einem Bilde sagen: es ist schön. Aber sie kann nicht sagen, 
weshalb es schön ist. Ls läßt sich nicht einmal beweisen, daß ein 
Kunstwerk keines ist. Noch viel weniger, daß ein Kunstwerk — und 
weshalb es — auf uns wirkt. Wir wißen nicht, was uns ergreift. 
Wir wissen nicht, weshalb wir ein Bild schön finden. 
Etwa weil es gut gemalt ist? Bagrische Votivtafeln ergreifen 
uns eher, als die brillant gemalten Porträts der Sezessionen. Was 
haben Technik, Stil und Können mit dem Eindruck zu tun, den wir 
vom Kunstwerk empfangen? Mit ihnen läßt sich nichts erklären. 
Sie stnd (wie Leinwand und Zarbenfirma) undiskutable Vorbe 
dingung, Privatsache des Künstlers. 
Bon dem Stoff, von der Anekdote des Kunstwerks sind unsere 
Empfindungen nicht so unabhängig. Stoffliche Eindrücke mischen 
sich mit denen, die wir rein aus der Kunst empfangen, und wir haben 
keinen Grund, ste zu absorbieren. Aber mit Kunst und dem Wert 
des Kunstwerks haben sie nichts zu tun. 
Wenn wir die Anekdote eines Kunstwerkes nicht verstehen, so 
können wir trotzdem das Kunstwerk sehr wohl verstehen. 
Also nicht der Stoff des Werkes und nicht das Können des 
Künstlers ist es, was uns ergreift, und was uns sagen läßt: Wie 
schön! 
Was ist es denn? — Wir wissen es nicht. Die Seele des 
Kunstwerks. Gewiß: die Seele. Aber wo ist sie? Wie ist ste? 
Was ist sie? Was beseelt die Bilder Picastos und macht ste zum 
Kunstwerk vor Malereien und Vorsatzpapieren des Zufalls? 
Der künstlerische Wille. — Gewiß. Aber wie äußert sich der? 
L'est le Rhythme qui fait 9a, sagte mal Sawlenski. Gewiß. 
C’est le Rhythme. Aber was ist das: Rgthmus? Ein schönes Wort 
und ein sehr schöner Begriff. Aber worin äußert er sich? Z. B. bei 
Picasto? 
Es hilft nichts: wir wißen nicht, was das ist „le Rhythme"; 
wir wißen nicht, was das ist „Die Seele des Bildes"; wir wißen 
nicht, weshalb ein Kunstwerk „schön" ist. 
Der Künstler selber weiß es nicht. Er weiß oft nicht, weshalb 
er den Strich dahin, weshalb er den Zleck dahin fetzt. Er hat es im 
Gefühl: das gehört dahin, es muß so sein. Wir haben nachher 
dasselbe Gefühl. Wir sind befriedigt und glücklich, weil es so ge 
worden ist. Weshalb es so werden mußte, weshalb es uns glücklich 
macht, daß es so wurde, das wißen wir nicht. Das weiß kein 
Mensch. Auch kein Kritiker.
	        
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