Volltext: 1914-1916 (1914-1916)

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Philosophie und Gemeinschaft 
safere aus der Gemeinschaft ins Gesellschaftliche verfallene Menschheit lebt 
nicht nur wirtschaftlich» sondern auch geistig in einem anarchischen Gegeneinander, 
und so sind ihr nufere Einsichten bestenfalls immer nur „Ansichten", in welchem 
Wort Anerkennung und Verachtung des Sudividuums gleichzeitig Uegt» sehr charak 
teristisch für die Gesellschaft, dieses Zluteude der Sndividueu» die sich nur finden, 
am sich abzustoßen. Die Gesellschaft hat das Denken der Welt, das „Philo 
sophieren", zu einem Beruf gemacht, den sie, ihn „wisieuschaftlich" neuueud, aus 
zuzeichnen meint io ihrer Sdolatrie des Wisienfchaftlicheu» — einem Beruf, den 
jeder Einzelne nach Zähigkeit und Laune ausüben mag, wenu's ihn freut, — 
genau wie sie es in des Einzelnen Belieben stellt» ob er als Ehemiker oder 
Schuster sein Leben gewinnen und hinbringen will. Das Gemeinsame sieht sie 
nur im substantiellen Objekt: hier die Welt der Stiefel» dort die Welt der Er 
kenntnisse. Und wie die Schuhfabrikauteu zwar alle Schuhe machen und doch 
jeder von ihnen Wert darauf legt, ganz besondere Schuhe herzustellen» da sie ja 
alle gegeneinander und nicht miteinander produzieren, — genau so die Philosophen 
der Gesellschaft: sie denken nicht sokratisch mit-, sondern gegeneinander» und A 
lebt davon, daß er B „widerlegt". Das Philosophieren ist eine Disziplin ge 
worden ganz gegen ihr Wesen, das gar nicht „wisieuschaftlich" im gesellschaft 
lichen Sinne ist und gar nicht „historisch" im exakt-wissenschaftlichen Sinne» wie 
etwa ein Lehrbuch der Chemie von 1915 „wahrer" ist als eines aus dem Sahre 
1860, weil das erste brauchbarer ist. Das Philosophieren ist Anschauen der Welt 
— um mit dem falsch gebrauchten Wort „Weltanschauung" nicht mißverstanden 
zu werden —, das sein einziges „Kriterium" in der Gemeinsamkeit des Miteiu- 
auderselns hat, in einem Drinnen also» nicht in einem eiuzeldenkerischeu Draußen» 
das ja seinerseits wieder ein solches Kriterium brauchte» und dieses wieder eines, 
und jo fort ad infinitum. Der Schulstreit um die „Richtigkeit" einer Philo 
sophie ist ein Gesellschaftsspiel mit wisienschaftlicher Altare» in dem der Philo 
soph sich selber einsetzt und selbstverständlich mindestens sich selber wieder ge 
winnen will. Daher der für das gesellschaftliche Philosophieren unbestreitbar 
richtige Satz, daß keine Philosophie mehr wert ist als der Philosoph, der sie 
hat. Sich nirgends zu widersprechen» hält A um so mehr für den wichtigsten 
Beweis feiner Wahrheit, als er mit nichts sonst beschäftigt ist wie dem B desieu 
Widersprüche auszuweisen und daraus desieu „Wahrheit" zur „Aicht-Wahrheit" 
zu machen. „Das Leben ist eine Ceudeuz zur Individuation", — diesen Satz
	        
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