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länger der Rrieg schläft, desto wilder erwacht er. Und diesmal hatte er
lange geschlafen, tief, fast wie ein Toter; beinahe hätte man ihn begraben — und
als er sich kurz, ruckweise erhob, schnell wach, mit grellem Blick, ein Land nach
dem andern in Flammen setzte, da strahlte sein Angesicht in so ungeheurer
Raserei, daß wir aufatmeten, als seine Mienen ins Unübersehbare wuchsen.
Das haben niemals Menschen vor uns so jäh erlebt. Sein Dasein löschte
nicht nur den Frieden aus, auch alles was im Frieden über ihn bestimmt und
gebilligt war. Reines Menschen Wappen mehr trug er im Schild, wie sonst,
wo man ihn Bismarck nennen konnte oder Napoleon oder Helena; er war
keine Tat: er geschah. Vergebens schrie man jetzt Namen in den blutroten
Horizont; er war in seinem tiefen Schlaf sich selber ähnlich geworden und kam
in seinen eigenen Farben. Die menschlichen Rriegsgeseye hatte er vergessen. Nicht
der Friede hörte auf, sondern die Gesetzlichkeit. Rriegsehre, Verträge, Gesetze
der Menschlichkeit wankten und sielen. Es gab bald Tage, wo jedes Vertrauen
verblich, weil niemand mehr stark genug schien, seinen entfesselten willen in
menschlichen wegen zu halten.
Und nun geschah das Merkwürdige, wir empfanden das völlige Aufhören
von Recht und Gesetz nicht als ein Thaos; eine tiefe Genugtuung leuchtete durch
unser Staunen hindurch. Ein leises fernes Frohlocken durchdrang unsere Seele;
wie erwachend mit einem frischen Atemzug begrüßte sie die neue Wahrheit: es
gibt nichts Festes; was von Menschenhänden gesetzt ist, es sei recht oder
unrecht, kann durch Menschenhände fallen; die Menschheit achtet die Gesetze,
die sie großmächtig sich auferlegt hat, selbst für nichts; der Horizont ist un
verstellt und ringsum sind Wege möglich. Der Friede gerade wurde als Lhaos
erkannt unter der pochenden Aufforderung, sich zu erheben, die Flügel mächtig
zu regen, unter der Ahnung, daß wir in einem so freien Zustand uns leichter
und herrlicher würden bewegen lernen, weltmütig, leichtgemut. Es zog uns
empor, wie wenn im Orchester die braven Instrumente zum Schweigen gebracht
werden, Fagott und Lello, Bässe und Flöten ihre allzu irdischen, innigen, gemüt
voll - sicheren Töne verdrossen aufgeben, und nur die Hellen scharfen und durch
sichtigen bleiben, allein verwegen aufsteigen, schweben, und gellend das Becken
nach dem Unisono ruft. Der Wille ist aufgerufen, was brauchen wir weiter?
Gewalt hat einen schöneren Schritt als Recht; weil sie frei ist.
wir wehren uns heftig dagegen, daß dieser gründliche Zweifel am Lebens
wert von Recht, Gesetz und Sicherheit aus einer niederen Ebene kam, ein Rück
schlag ist in triebhaft ungebärdige Zustände, wir sind nicht mehr so hilflos
wie unsere Väter gegen den Fluch solcher Verdächtigungen, wir wissen, daß
das Schicksal den Menschen noch niemals durch eine Zeit der freien Gewalt
geführt hat, daß weder wilde noch Tiere imstande sind aus dem willen zu
leben. Gerade Friede und Recht haben unzählbare Ahnen in der Natur, cm
ewiges Echo in der Vergangenheit. Das neue Gefühl dagegen, dessen Haß
Feindschaft gegen Gesetz und Recht heißt und dessen Liebe die freie Tat ist,