Volltext: 1914-1916 (1914-1916)

an einem Zaun vorbeigeht, in dem eine Latte fehlt; ob er diesen oder jenen 
oder einen anderen Traum hat, welcher die Zahnlücke ausdrückt, das hängt 
von Erinnerungen und Assoziationen ab, die mit der Zahnlücke nichts zu tun haben. 
Man nehme als Beispiel für einen solchen Ausdruck des Gefühls die Lehre 
vom ewigen Leben. 
Die Zeit ist eine Vorstellungsform, ohne die wir in unserem Leben nicht 
sein könnten. Religion geht aber auf etwas, das hinter unserem gewöhnlichen, 
bewußten Leben liegt, und in seltenen Augenblicken einer Hochspannung des 
Gefühls können wir dann sogar den Eindruck haben, daß die Zeit schwindet. 
Ein mystischer Dichter versucht diesen Zustand auszudrücken durch den Vers 
„wem Zeit wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit, der ist befreit von allem Leid". 
Der Zustand ist nicht darzustellen; und wenn wir das, was hier gemeint ist, 
und das jenseits unseres Vorstellungskreises liegt, doch sagen wollen, so müssen 
wir das doch wieder mit unseren Vorstellungsformen sagen; wir schneiden ver 
standesmäßig zwei Eigenschaften der Zeit ab: Anfang und Ende, und sprechen 
dann von Ewigkeit. Vorstellen können wir uns diese Ewigkeit natürlich auch 
nicht, wir können sie aber doch wenigstens durch jenen logischen Runstgriff 
sagen; es ist das ein ähnlicher Vorgang, wie bei der Mathematik der 3+ n 
dimensionalen Gebilde; man glaubt zu haben, wo man nie haben kann. Hat 
die Menschheit aber erst einmal den Begriff der Ewigkeit, so beginnt sie mit 
Ausmalen, natürlich wieder aus dem Gebiet des äußeren, des wirklichen Er 
lebens, das mit der Religion gar nichts zu tun har: man verlegt Lohn und 
Strafe in die Ewigkeit und stellt sich Gott vor wie einen kurzsichtigen Menschen, 
der etwa Richter ist, indem man sich dabei natürlich in unlöslichem Widersprüche 
verwickelt; und je nach Seele und Geist des Volkes, der Zeit und des Einzelnen 
wird dann dieses „Jenseits" mehr oder weniger sinnlich ausgemalt als eine 
Art Diesseits, das nur nach den wünschen und Neigungen des Betreffenden 
neu eingerichtet ist. So kann denn zulegt, was ursprünglich Ausdruck des 
religiösen Gefühls war, sogar antireligiöse Lehre werden, im besten Glauben 
natürlich. Lehren etwa wie Prädestination und Gnadenwahl sind doch eigentlich 
das Grausigste von antireligiösem Geist, was man sich denken kann, und sie 
sind ausgegangen von religiösen Denkern. Ich glaube, daß die religiösen 
Dichter ein reineres Gefühl haben wie die Denker. 
Da das Gefühl das Ungreifbare, der Ausdruck aber das Greifbare ist, 
da das Gefühl häufig schwindet, der Ausdruck aber bleibt, so wird der Ausdruck 
immer so hochgeschätzt und mit der Religion selber verwechselt. 
wir sahen nun am Anfang dieser Auseinandersetzung, daß ein neues 
religiöses Gefühl offenbar durch unser Volk geht, .welches bei Vielen in den 
SL
	        
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