Full text: Briefe eines Toten

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durch, dass er seine Eigenschaft nach aussen projezierte, 
dass er sich ein Werkzeug, sein Weib, seine Welt, 
schuf, den Punkt ausser ihm, mit dem allein er wusste, 
dass der tote Punkt zu überwinden war. Er wollte 
und wuchs und ward. 
Denn alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. 
Als der Mensch dieses Gott nachgeahnt (oder 
geahmt) hatte, war der erste Schritt in seine Gottheit 
getan, flog sein Geist Jahrmillionen vorwärts ins späte 
Reich der Zeit; er aber, der Mensch, ward verstossen, 
weil er vom Baum der Erkenntnis gegessen, nachdem 
ihn das Weib dazu gereizt. Er kannte wohl, aber er 
konnte noch nicht. 
Höchste, göttlichste Projektion seiner selbst nach 
auswärts. In Jahrmillionen schwerer göttlicher Ar 
beit war er ihm langsam, langsam nähergekrochen, 
dem erkannten Ziel. Kennen Sie die Affäre von der 
Bohnenranke? Aber die Bohnenranke war zugleich 
ein Baum, der zum Himmel wuchs, der ihn zum 
Himmel trug, durch seiner eigenen Hände Arbeit ge 
pflegt im Schweisse seines Angesichtes, veredelt aus 
Dornen und Disteln. Wohl sah er den Himmel offen, 
aber damals sah er ihn erst offen. 
Arbeit ist süss. Warum will der Mensch nicht 
Mann sein? Das Weib sagt: Arbeit ist süss — aber 
sauer. Man sagt: Tod gibts nicht; Tod ist nur eine 
Verwandlung, Tod ist nur ein Übergang; jeder Übergang 
ist Tod: Tod des vorhergehenden Stadiums. Das 
Leben ist nur das Stadium, in dem wir uns zufällig 
gerade befinden, das uns deshalb am meisten inter 
essiert, das Leben ist ein Grenzstadium, ist das Ringen 
um den Tod, ist der Kampf, die Arbeit etc., ist Moment 
des höchsten Zusammenpralls der Geschlechter, des 
Todes der Geschlechter und darum des Lebens. 
Wollt ihr also Näheres über das Leben nach 
dem Tod wissen, so fragt das Leben, so fragt 
den Embryo, so fragt das Kind, so fragt die Sterne.
	        
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