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Jahresbericht 1910 der Zürcher Kunstgesellschaft
Die Kunstgesellschaft teilte dem Anwalt am 20. Dezember 1908 mit, über die Offerte
werde am 21. Dezember Beschluss gefasst; Strafuntersuchung werde einstweilen nicht
eingeleitet.
Am 22. Dezember telegraphierte sie ihm: «In Sachen Ketsch wird bei sofortiger
telegraphischer Anweisung von M. 15,000 an uns definitiv auf Strafantrag verzichtet.»
Darauf antwortete der Anwalt am 23. Dezember telegraphisch: «Fünfzehntausend
Mark sind heute per Zürcher Kantonalbank nach Massgabe Ihrer Depesche überwiesen.»
Nachträglich lief ein vom 22. Dezember datiertes Schreiben von ihm ein, worin er fest-
stellte: .... «Wir sind darüber einverstanden, dass diese Summe nur bezahlt wird
unter der Bedingung, dass weder Strafanzeige erstattet ist, noch erstattet wird, dass
also der bewusste Herr keinerlei Strafverfolgung zu befürchten hat.»
Darauf antwortete die Kunstgesellschaft am 29. Dezember, sie habe «sich lediglich
verpflichtet, keinen Strafantrag gegen Herrn Kusch zu stellen. Hierin ist natürlich inbe-
griffen, dass bis zur Absendung der Depesche von seiten der Kunstgesellschaft kein
Strafantrag gestellt sein durfte. Dagegen ist die Zahlung der M. 15,000 nicht etwa
unter der viel weitergehenden Bedingung gemacht worden, dass überhaupt keine Straf-
verfolgung gegen Herrn Kusch eingeleitet werde. Denn falls es sich im vorliegenden
Falle um ein Offizialdelikt handelt, wäre es ja immerhin nicht absolut ausgeschlossen,
dass eine Verfolgung von Amtes wegen, also ohne Strafantrag eintreten könnte.»
Dieser Brief blieb ohne Erwiderung!
Der Vorstand hat es, dem Beschluss der Geschäftssitzung vom 24. Februar 1910
antsprechend, für seine Pflicht gehalten, die Angelegenheit durch den Richter entscheiden
zu lassen. Er erblickte in seiner Depesche vom 22. Dezember eine das Anerbieten
der Frau Ketsch vom 18. Dezember ablehnende neue Offerte und im Telegramm der
Gegenpartei vom 23. Dezember eine rückhaltlose Annahme dieser Offerte. An der Rich-
tigkeit dieser Auffassung konnte er umsoweniger zweifeln, als er das nachträglich ein-
gelaufene Schreiben der Gegenpartei in aller Form zurückgewiesen hatte und darauf ohne
Antwort geblieben war. Mitbestimmend war, weiter, dass sorgfältige Erkundigungen er-
geben hatten, dass Frau Ketsch in guten ökonomischen Verhältnissen lebt, und ferner
die Tatsache, dass die Unterlassung der Strafanzeige die strafmildernde Folge gehabt
hat. dass Kusch nur wegen der qualifizierten Unterschlagungen bestraft worden ist.
Endlich fiel in Betracht, dass eine Anzahl Mitglieder des früheren Vorstandes und
der Finanzkommission der Kunstgesellschaft die Summe von Fr. 16,000 als Beitrag zur
Deckung des Schadens zur Verfügung gestellt haben, unter der Bedingung, dass die von
Frau Ketsch deponierte Summe von der Kunstgesellschaft unter den von Frau Ketsch
gestellten Bedingungen angenommen werde. Wäre dem Begehren der Witwe Ketsch ohne
weiteres Folge gegeben worden, so wären die Zeichner dieses Betrages an. ihre’ Offerte
rechtlich nicht mehr gebunden gewesen.
Der Prozess ist leider zu ungunsten der Kunstgesellschaft entschieden worden. Die
Gegenpartei ist vom Bezirksgericht mit dem Urteil vom 20. Oktober 1910 mit ihren Be-
gehren geschützt worden, weil sie sich beim Abschluss des Vertrages in einem wesent-
lichen Irrtum befunden habe; vom Obergerichte, mit dem Urteil vom 10. Februar 1911,
abweichend von den Motiven des Bezirksgerichtes, weil mangels übereinstimmender Wil-
lensäusserung überhaupt kein Vertrag zustande gekommen sel.