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Jahresbericht 1912 der Zürcher Kunstgesellschaft,
C
Die Zürcher Kunstgesellschaft hat kürzlich vierzehn Blätter für die Sammlung
im Kunsthaus erworben. Sie verteilen sich über nahezu 40 Jahre. Das früheste trägt vom
Künstler selbst den Vermerk «Madrid», stammt also aus dem Jahre 1877. Fig.1, S. 8.
Diese Federzeichnung mit massig vereinfachten Umrissen von ruhenden Stieren
ist vielleicht das Blatt, das am reinsten speziell zeichnerische Stilisierung, am wenigsten
Beziehungen zu Hodlerscher Bildkunst zeigt. Ein Gegenstück findet sich in einer
Pinselzeichnung zum «ewigen Juden» aus dem Anfang der achtziger Jahre; über ganz
leichten Bleistiftstrichen sind in dunkleren und helleren Flecken die Tiefen aufgetragen,
die Lichter ausgespart. Die beiden Blätter scheinen, was eingangs über den Charakter
der Hodlerschen Zeichnungen gesagt worden ist, ihre Beschränkung auf das, was vom
wesentlichen des Bildes zeichnerisch auszuprägen ist, in allem zu widerlegen. Wenn man
sich aber an den Charakter der Hodlerschen Malerei der siebenziger und frühen achtziger
Jahre erinnert (der «Schreiner» und der «Stabschnitzer» im Zürcher Kunsthaus mögen
als Beispiele gelten), die in ihrer Tonigkeit noch wenig mit dem selbstgeschaffenen spätern
Stil gemein hat, so ist erklärlich, dass eine Zeichnung entweder mit streng linearer
Haltung im Gegensatz dazu stehen oder sich in ausgesprochen malerischer Haltung ihr
anschmiegen und den Charakter der Zeichnung aufgeben muss.
Anders zeigt sich eine aus dem Jahre« 1891 stammende Zeichnung zu einem der
« Enttäuschten », die Vorstudie zur Gestalt links neben der Mitte. Auch hier wurde nach
dem Bleistift noch der Pinsel verwendet, aber keine malerische Lösung in Licht und
Schatten, Ton und Halbton damit gesucht, nur eine rasche Probe über die Wirkung der
Verteilung von hellen und dunklen Flächen und der wichtigsten Begrenzungslinien; die
Teile des dunklen Gewandes, die am nächsten bei Händen und Gesicht stehen, das Ge-
wand, wo es mit Schultern und Ellbogen sich vom hellen Grund abzeichnet, oder die
Beine, die aus dem schwarzen Tuch hell heraustreten, dazu ein paar wichtige Gewand-
falten — derartige für Aufbau und Flächenwirkung bedeutungsvolle Teile sind mit weichen
Pinselstrichen leicht angetuscht. Wie prägt sich auch im Bild (im Museum Bern) ein neuer
Stil aus: Die fünf Figuren nebeneinander aufgereiht in statuarischer Ruhe, unserer Atmo-
sphäre mit ihrem schimmernden Licht und den tausendfach abgestuften Schatten und
Reflexen enthoben, von allseitig geschlossenen Umrissen in strengste Form gebannt.
Die Bleistiftzeichnung zur Mittelfigur dieses Werkes (nicht zu den «Lebensmüden»,
wie die Aufschrift der Abbildung irrtümlicherweise anzeigt) — Tafel III — gibt im
leisen Fluss der Umrisslinien den ganzen Stimmungsinhalt und die Prägnanz der Form,
wodurch die Figur im Bilde sich auszeichnet: Die abgezehrten Beine und Arme, die
Trostlosigkeit der ganzen Haltung mit der mühsam und unregelmässig verlaufenden
hohen Rückenlinie. Die feine Begleitlinie, die als vereinfachte Wiederholung die Körper-
silhouette umkreist und erst recht lastend zusammendrängt, gibt den genauen Umriss des
im Bilde ausgemalten schwarzen Tuches.
Von gleicher Sammlung in Stimmung und künstlerischer Form sind die Zeich-
nungen zur «KEurythmie> (1895) — Tafel II — und zur «Empfindung» (1908)
— Tafel IV —. Wenn beim «Enttäuschten» das Antlitz überhaupt nicht sichtbar ist,
so liegt auch bei diesen zwei Blättern das Wesentliche des Ausdrucks nicht in den
zwar sichtbaren und edel gezeichneten Köpfen, sondern ebenfalls im grossen Umriss der
Gestalten. Am einen Ort die streng fallenden, im langsamen Schreiten kaum gebrochenen