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Jahresbericht 1914 der Zürcher Kunstgesellschaft
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Von dieser Fülle bieten die Blätter, die heute die Zürcher Kunstgesellschaft besitzt,
eine Auswahl; nicht eine vollständige Reihe der mannigfaltigen, immer wieder über-
raschenden Wandlungen in Technik und Stil der Füsslischen Zeichnungen; für einen der-
artigen Ausbau der Sammlung wären noch viel reichere Mittel notwendig gewesen als
zur Verfügung standen; verschiedene entscheidende Stufen und Stoffgebiete gelangen aber
wirksam und glücklich zur Geltung. Da ist vorerst ein «Faustkampf des Polydeukes mit
Amykos». Die kurzen, rund modellierenden Linien, die vielfach gebrochene Bewegung,
die gedrungenen Gestalten mit zu grossen Köpfen, und die unvollkommene Bildwirkung
wegen mangelhafter Lösung des Räumlichen lassen die Zeichnung als blosse Weiterbil-
dung von Formen erkennen, die Füssli schon in den letzten Blättern des Zürcher Jugend-
albums beherrscht. Spätere Werke zeigen, dass in Italien auf lange hinaus die Wirkung der
Antike bei ihm stärker war als das oft genannte Vorbild Michelangelos. Freie Uebertragungen
von antiken Reliefs und Bildwerken waren in den Leipziger Mappen nicht selten. Aus
den römischen und nachrömischen Kompositionen spricht die erfolgreiche Bemühung um
einfach grosse Bewegung und klare Form; ein Purismus, der vom Klassizismus eines
David gar nicht so weit abliegt. Hohe Gestalten mit langen, ungebrochenen Umrisslinien,
schlicht nebeneinander gestellte Flächen von Hell und Dunkel, weit ausgreifende, ein-
deutige Gebärden gliedern das Bild. Der Raum wird als Bühne und Hintergrund der
Handlung summarisch angedeutet und in die Darstellung einbezogen. Zugunsten bild-
mässiger Klarheit und Geschlossenheit wird auf begleitende Einzelheiten oft so streng
verzichtet, dass gelegentlich beinahe der Eindruck der Leere und äusserlicher Theatralik
sich einstellt. An das Theater denkt man bei diesen Szenen zu Homer, nordischen Sagen,
Dante, Shakespeare immer. Sie sind ja auch in der Mehrzal als Illustrationen zu Dramen,
immer zu höchst dramatischen Vorgängen, geschaffen. Man fragt sich, ob der Maler
sich vielleicht hie und da durch den Schauspieler und die Kulissen nicht ebensosehr hat
anregen lassen wie durch den Dichter und die eigene Phantasie. Das Zürcher Kunst-
haus verwahrt von derartigen Kompositionen eine Szene aus «Lear», die Erscheinung
des Geistes im «Hamlet», «Priamos bei Achilleus», einen ganz gewaltigen «Odysseus»,
sine «Kriemhild» an Siegfrieds Leiche und ein «Tänzerpaar», hinter dem ein Eifersüchtiger
mit dem Dolch lauert. Sie liegen mehrere Jahrzehnte auseinander. Deutlich ist in diesen
Blättern zu verfolgen, wie der Pinsel mit der Zeit grössere Bedeutung erhält als die
Feder. Die anfänglich so ausgeprägten Linien der Umriss- und Innenzeichnung werden
lockerer und mehr und mehr von leicht aufgetragenen Tönen und Halbtönen zugedeckt
und aufgesogen. Reiche Bewegung und romantische Lichteffekte treten an die Stelle der
statuarischen Ruhe und Klarheit. Schwarzblau, wie aus Bronze gegossen steht der rächende
Odysseus mit seinem Gefährten vor dem hellen Schwarm der auseinanderstiebenden Freier;
die Nibelungenszene ist fast reine Pinselzeichnung in grauer Tusche über ganz leichten
Bleistiftlinien; das Tänzerpaar mit seinen rötlichen und gelben Zwischentönen schon fast
ein Aquarell. Dieses Blatt, wie die anmutige Darstellung des Alpdrücken mit den beiden
Mädchen auf breitem Lager, von denen das eine halb sich erhebend aufseufzend ans Herz
greift, während in einem Streifen Mondlicht ein Kobold durchs Fenster in die Weite
sprengt, leiten stilistisch und stofflich zu einer Reihe andersartiger Darstellungen über.
Einer der englischen Füssli-Biographen erwähnt gelegentlich, nur so nebenhin,
die öfters wiederkehrende « Erscheinung einer im Schmucke von Schönpflästerchen,