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Jahresbericht 1917 der Zürcher Kunstgesellschaft
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von 1908, wo alles «Aufbruch!» «Vorwärts!» ruft, während man hier an die Vorbereitungen
zu einer Musterung denkt. — Bei den zwei Frauengestalten, S. 39 und S. 41, sollte jedes
An- und Abschwellen der einzelnen Striche, jeder Wischton erkennbar sein; die Unzuläng-
lichkeit der kleinen Reproduktionen macht sich hier besonders fühlbar. Für Spannkraft,
präzise Bewegung und knappe Gliederung, womit die Männerfiguren ausgezeichnet
sind, steht hier Gelassenheit und süsse Schwere. Die Aktfigur stellt eine neueste Ver-
körperung der mit ausgebreiteten Armen nach vorn schreitenden Frau dar, wie sie um
1905 zum erstenmal den Namen «Das Lied aus der Ferne» erhält und mit diesem Titel,
als «Weib in Blumen» oder als «Musik», bekleidet und unbekleidet, in neuer Form und
Auffassung im Werk Hodlers immer wieder erscheint. 1912 erwarb die Zürcher Kunst-
gesellschaft die Zeichnung eines leicht gleitenden schlanken Mädchens dieser Art. Unser
Blatt von 1914 oder 1915 zeigt eine gedrungene, kräftig gerundete Gestalt in schön
fliessender eindrucksvoller Bewegung. — Die letzte der kleinen Abbildungen gibt eine
Bleistiftstudie zur. zweiten Fassung des Treppenhausbildes für das Zürcher Kunsthaus,
die Figur, die unter den fünf weiblichen Gestalten der Komposition als die weiblichste
sich darbietet. In der ersten Fassung des grossen Bildes ist sie Mittelfigur, hoch, mit
breiter Brust, ein Bild weiblicher Kraft. In der zweiten wird, wie unsere Zeichnung
angibt, die Neigung des Kopfes etwas gemildert, das Antlitz mehr nach vorn gewendet,
dafür biegt sich der Leib in den Hüften; die Unterarme stehen etwas weiter vom Körper
ab, die Ausladung der Hüftenlinie ist etwas tiefer gelegt, der Umriss des Leibes gegen
die Arme hin etwas mehr zusammengefasst. Damit gelangt noch mehr Ruhe und breites
Beharren in die Gestalt, wird das Weib noch mehr Mutter und Matrone.
Von den auf den Tafeln I—IV reproduzierten Zeichnungen steht das als Studie zum
«Blick ins Unendliche» benannte Blatt höchstens in mittelbarem Zusammenhang mit dem
grossen Figurenbild. In keiner der als Gemälde durchgeführten oder auch nur als Skizze
angelegten Kompositionen begegnet diese geschlossene Haltung mit ausgedrehten Armen
und an den Leib gelegten Händen. Wenn die Stellungen und Gebärden der fünf Frauen
im Bilde selbst und von einer Fassung zur andern noch so vielfältig varliert werden, so
bleibt doch immer eines: gerade die bei angezogenem Oberarm leicht ausgebreiteten,
vom Körper wegstrebenden Hände bilden die Brücke zwischen den verschiedenen Gestalten.
Man erinnert sich angesichts dieser so streng isolierten schmalen Einzelfigur an den vor
bald fünf Jahren mit grossen Erwartungen begrüssten Entschluss zu einem Auftrag an
den Künstler für Ausmalung der Fassadennischen am Gebäude des zürcherischen Lebens-
mittelvereins. Sollte diese Gestalt während der Beschäftigung mit dem Gedanken an eine
derartige Aufgabe aufgeblüht sein? Wie dem sei, immer ist sie eine neue Frucht des
Ringens um Form und Ausdruck der menschlichen Gestalt, das am Grunde des ganzen
Schaffens von F. Hodler steht; das einmalige Ergebnis mag nun «Aufgehen im All»,
«Ergriffenheit», «Anbetung», «Eurhythmie>, «Empfindung», «Lied aus der Ferne», «Heilige
Stunde», «Weib in Blumen», «Entzücktes Weib», «Blick ins Unendliche», oder anders
benannt sein. — «Dem Unvergänglichen in der Natur Gestalt zu geben, ihre innere Schönheit
zu enthüllen, die Formen des menschlichen Körpers zu heiligen», dies ist mit Hodlers
eigenen Worten die Mission des Künstlers, seine Mission.
Die Mädchengestalt von Tafel I gleich wie auch die Figur zur «Einmütigkeit» auf
Tafel IM, in ihrer Klarheit und Schlagkraft der Bewegung und der Beziehungen der Formen