Jahresbericht 1917 der Zürcher Kunstgesellschaft
Zeichnung wohl nicht später als 1895. — Auf einem grossen Blatte in Bleistift, Tusche
und wenig Rotstift wandeln die Schwestern dieser Mädchen in zwei Paaren im Vorder-
grund, während im zweiten Plane kauernd und kriechend schlaftrunkene Gestalten sich
am Boden regen: «Tag» und «Empfindung» noch im gleichen Keim vereinigt. Wie das
Stoffliche noch weit von jener glanzvollen Lösung abliegt, die die ersten Jahre nach
L900 für beide Gedanken brachten, so sind auch die zeichnerischen Formen immer noch
in Gemessenheit und Strenge gebunden, nur schmale, kaum bewegte Umrisse, das feier-
liche Schreiten immer erst Ergebnis eines grossen Entschlusses. — Auf die Bedeutung der
dreijährigen Arbeit für das schweizerische Landesmuseum ist bereits hingewiesen worden.
Wie viel freier in der Haltung und vergrössert in der Form stehen die beiden Figuren zu
der 1900 vollendeten neuen «Ergriffenheit> neben den eben genannten zarten Schwestern
aus der Mitte der neunziger Jahre; das Kleid ist verkürzt, die Füsse im Boden verwurzelt,
die Gebärde weit; jetzt ist «Ergriffenheit» nicht mehr Demut, sondern Pathos. In den
Haarwellen und Gewandlinien eines neuen Mädchendoppelpaares schwingt jetzt der
Rhythmus der «Empfindung» voraus. Ein weiblicher Akt, der um 1900 im «Blick auf die
Wiese», als Vorläufer des «Weib am Bergbach» erscheinen wird, steht schon als Zeich-
nung mit mächtig gerundeten Gliedern und reifen Hüften, ein Gegenstück zum Tell und
zu den Riesen von «Marignano».
Auch die Komposition «Hirtenleben», in Bleistift und Tusche, weist bei aller Ruhe, dıe
in der Festigkeit und Rundung der Einzelheiten wie in der einfachen Kurve des ganzen
Aufbaues liegt, nach der Stimmung des «Tell» und der kleinen Entwürfe zu Szenen aus
der Schweizer Geschichte (Näfels, Arnold von Melchtal, Morgarten, Uli Rotach u. a), die,
auch für das schweiz. Landesmuseum, um 1897/98 entstanden. — Das farbige Blatt der
«Heiligen Stunde», ein eigentliches Gemälde, über Bleistiftkonturen, mit Deckweiss für
die Karnation, sattem Blau, teilweise gemischt mit Hellgrün in Pastell- oder Raffaellistift
für die Gewänder, brennendem Rot und dunklem Grün in gleicher Technik für die Rosen-
beete, und malvenrot überstrichenem Grund, steht als Komposition auf der Stufe der
«Heiligen Stunde» des Zürcher Kunsthauses von 1907; die Farben zeigen jene höhere
Glut, die erst in der auch zeichnerisch zu grösserer Erregung gesteigerten Fassung von
1911 dominiert, kurz vorher aber schon in der «Liebe» vorbereitet wird. Wahrscheinlich
hat der Künstler die neue Farbigkeit vorerst an einem in seinen Mappen noch vorhan-
denen Parallelentwurf zur ersten Fassung geprüft, dann im neuen Bild den Kinklang von
Farbe und Gebärde geschaffen. — Das letzte Einzelblatt der Sammlung ist eine grosse
Zeichnung zum Bildnis von General Wille von 1915, tatsächlich nur ein knappes Linien-
gerüst auf weiter, weisser Fläche, das aber beim ersten Blick schon mit ihr zu unlösbarer
Zinheit zusammen wächst und lebendig wird.
Die Bedeutung der sechs Zeichnungen zur «Einmütigkeit», der fünf Studien zum «Blick
ins Unendliche» und der vier Bildniszeichnungen «Schlummernde», «Kranke Frau» und
«Tote», die alle das gleiche Profil wiedergeben, liegt nicht in ihrer Zugehörigkeit zu
sinem bestimmten Stoffkreis. Sie wurden vielmehr wegen ihres absoluten Wertes, als
freie, schöpferische Zeichnungen gewählt, ohne Rücksicht auf grössere oder geringere
äussere Verwandtschaft mit Gemälden, zu denen sie gegenständlich allenfalls hinleiten.
So findet sich denn innerhalb dieser kleinen Gruppen eine ähnliche Mannigfaltigkeit
nach Stimmung, Technik und Durchführungsgrad wie in der ganzen Sammlung. — Unter