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Jahresbericht 1936 der Zürcher Kunstgesellschaft
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«schlecht» nicht erfaßt und verworfen, was wir in dem für spätere und kleinere Meister
zeschaffenen Blickfang als gut hinnehmen. Wenn wir Spätwerke von Courbet einmal so
ansehen wie manche Bilder von Utrillo, und gewisse seiner Landschaften wie solche von
heutigen Künstlern, nicht von Impressionisten, so kommen wir ihnen, oder sie uns viel-
leicht näher. Gut oder schlecht in diesem Sinn, das heißt, im Verhältnis zur allgemeinen
künstlerischen Form der Zeit, ändert sich bei Courbet im Ablauf seines Schaffens, der aber
wieder nicht eine eigentliche, folgerichtige Entwicklung bedeutet. Das für ihn Wesentliche
äeht er nicht immer auf der gleichen Linie; so sind zu verschiedenen Zeiten, manchmal
auch neben einander, verschiedenartige Werke für ihn «typisch» und gut oder schlecht im
Sinn des mehr oder weniger vollständigen Gelingens dessen, was er will. Der Grad der
Durcharbeitung und Ausführung und die Wahl des Motivs sind oft von der augenblick-
lichen Energie und Richtung des Impulses bestimmt, also in einem engeren Sinn vom Zu-
fall. Sein Schaffen ist in dieser Hinsicht «ungeregelt», wie auch die nicht von menech-
licher Vernunft geleitete Natur, die blind zeugt und gebiert; sein inneres Gesetz für uns
verdeckt, unter einem nicht von Vernunft diktierten Rhythmus, der uns als Gesetzlosigkeit
erscheint.
Wer ihn einmal so sieht, dem sind die Verlegenheiten begreiflich, die er zu allen Zeiten
als Künstler wie als Mensch der geordneten Gesellschaft bereitet; er stößt immer wieder
an, ist zwar sehr musikalisch, doch gänzlich unbegabt zum Tanzen. Kunstwissenschaft
and Kunsthandel sind auch «geordnete Gesellschaft», oder möchten es doch sein, oder wer-
den. So verlieren beide von Zeit zu Zeit immer wieder vor Courbet, wenn nicht ein wenig
den Kopf, so doch Maß und Geduld. Er paßt weder hier noch dort recht in die Schub-
laden und ist auch unbequem im Format, sperrig in. jeder Richtung. Von «schlechten»
Bildern wird dort geschrieben und hier von «falschen».
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Die Berechtigung und Notwendigkeit einer ernsthaften Kritik, die nur da sich selbst
entwertet, wo sie mit der Allüre der Unfehlbarkeit und nicht zur Aussprache, sondern
nur zum Absprechen auftritt, ist unbestritten. Wir zitieren denn auch noch einmal Georg
Schmidt, der seinen «Epilog zur Zürcher Courbet-Ausstellung» damit einleitet, daß für
ihn die Zürcher Ausstellung «neben etwa fünfzig Meisterwerken ersten Ranges und neben
etwa gleich viel nebensächlicheren, aber immerhin qualitätvollen Werken eine schmerz-
lich große Anzahl von künstlerisch unterwertigen Bildern» enthalten habe, und lehnen
durchaus nicht ab, daß die Kritik am Künstler eben so sehr, nach der Absicht des Rezen-
zenten vielleicht überhaupt nur, eine Kritik der Ausstellung bedeutet. Abgelehnt wird hin-
gegen das Gehaben eines Herrn Tanner, der übrigens in dem erwähnten Artikel von G.
Schmidt gerade aus Basel eine hinreichende Quittung erhalten hat, Beleg 25.
Zur Kritik der Ausstellung darf der Direktor des Kunsthauses wohl der Meinung Aus-
druck geben, daß über eine Abgrenzung der «künstlerisch unterwertigen» Bilder nach
Zahl und Wahl eine Verständigung noch herzustellen wäre. Daß weniger wichtige und
problematische Arbeiten zum Werk von Courbet gehören, ist einmal so, er hat sie geschaf-
fen, wie die großen Meisterwerke, und sie tun weder diesen noch der Geltung und Würde
des Meisters Abbruch, wenn nur die andern auch da sind, und an der Zürcher Ausstellung
waren sie. Dafür, daß man alle weniger wichtigen und ansprechenden unterdrückte, Cour-
bet vorsorglich die Krawatte zupfte und über die Haare strich, bevor man ihn vor die Leute
schickte, dafür ist diese Figur zu groß. Er darf in seiner Maßlosigkeit erscheinen, die
sein Maß ist.