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Jahresbericht 1944 der Zürcher Kunstgesellschaft
3.Plastik. Dazu Tafeln VI—VIII
Das neunzehnte Jahrhundert hat dem unseren in der Schweiz kein großes Erbe an zeit-
genössischer Skulptur übermittelt. Wir sind uns aber immer noch zu wenig bewußt, wie viel
Zürich und die Schweiz Carl Moser verdanken, wenn er beim Bau des Zürcher Kunsthauses
und der Zürcher Universität seiner Architektur plastische Freifiguren und Flachbilder
beigesellte oder aus Form und Stoff des Bauwerks herauswachsen ließ.
Wenn auch, was in den Nischenfiguren und den Reliefs außen am Kunsthaus sich
anzeigte — eine neue schweizerische Plastik —, im Innern in Ausstellungen der jungen
schweizerischen Bildhauer eifrig und aufmerksam beachtet wurde, so folgten sich in den
zwei Jahrzehnten von 1910 bis 1930 die Erwerbungen von Skulpturen für die Sammlung
nur zögernd. Dann stieß das Ereignis der Plastikausstellung von 1931 neue Fenster und
Türen auf. Mit dem Griff auf das ganze Seeufer trat diese aus der Geschlossenheit
von Raum und Atmosphäre in den ja doch in erster Linie für Bilder gebauten Ausstellungs-
sälen unter das offene Himmelslicht und vor eine Bevölkerung, die eben in ihrer Masse
dem Glanz und Atem des Wassers und den Ruhebänken unter den Bäumen vor dem
Pilgerweg zum Musentempel den Vorzug gab. Plastik als solche wurde volkstümlich, blieb
wenigstens nicht mehr volksfremd; und wie die Ausstellung, wurde auch die Plastikabteilung
der Sammlung international; innerhalb unserer Zeit.
Eine nochmalige Ausweitung des Gesichts- und Interessenkreises brachte der Sommer
1943. Ein Zürcher Sammler ließ sich bewegen, für die Ausstellung «Ausländische Kunst in
Zürich» seine deutschen Holzfiguren des 15. und 16. Jahrhunderts dem Kunsthaus zu über-
lassen. Sie füllten einen Saal mit Werken voll Anmut und Bewegtheit, wie man an dieser
Stelle sie noch nie gesehen hatte, Auf Anregung und Bitte der Sammlungskommission fand
sich ein Freund des Kunsthauses bereit, vier der schönsten zu kaufen, um sie als Leihgabe
auf lange Frist der Sammlung zu überweisen. Zwei weitere, die Heiligen Apotheker Cosmas
und Damian, konnte die Kunstgesellschaft zu Eigentum erwerben. Mit krausem Haupthaar,
gerafftem und geknittertem Gewand, aus schwerem Gemüt, gespanntem Antlitz, steht der
eine (die rechte Hand und das runde Salbengefäß sind neu). Der zweite erscheint gelassener,
innerlich. weniger bedrängt; so strömen auch alle Formen größer und in schlichtem Fall.
Zu dieser Gruppe deutscher Holzfiguren aus der Schongauer- und Dürer-Zeit, und ihrer
allgemeineren Formen- und Empfindungswelt, der Sammlung auch gewisse französische
Steinfiguren von der strengeren Haltung des 13. bis 15. Jahrhunderts ein zu fügen, die als
vielleicht erreichbar gelten durften, mußte für einmal aufgeschoben werden. Wohl aber
wurde es dank dem Eintreten der kantonalen Regierung und des Stadtrates möglich, Zürich
die Marmorbüste Jean-Jacques-Rousseau des französischen Bildhauers Jean-Baptiste II
Lemoyne zu sichern. Sie ist die einzige nach dem Leben geschaffene Büste von Rousseau, ein
Werk von hoher künstlerischer und menschlicher Bedeutung. Ihre Vorgeschichte, ihre Ent-
stehung im Winter 1765 in Paris, geheimnisvolle Entrückung nach dem Tod des Philosophen
im Jahre 1778 und überraschendes, doch wenig beachtetes Wiederauftauchen im internatio-
nalen Kunsthandel kurz vor dem Krieg, ist aus dem Briefwechsel von Rousseau und der
Literatur über ihn reich zu belegen und wird an geeignetem Ort zur Darstellung gelangen.
Nicht daß die Sammlungskommission, wo es um Plastik geht, sich antiquarisch nur von
den Ausstrahlungen verblichener Jahrhunderte verführen ließe: neben den aufgeführten
Skulpturen in Holz und Stein steht als neuer Ankauf auch der «kubistische» Bronzekopf von
Picasso.
W. Wartmann