Jahresbericht 1946 der Zürcher Kunstgesellschaft
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CEZANNE
La Montagne Sainte-Victoire
«Pour peindre un pays, il faut le connaitre.
Moi, je connais mon pays, je le peins. Ces sous-
hois, c’est chez nous; cette riviere, c’est la Loue;
ıllez y voir, et vous verrez mon tableau.>
Courbet zu Edgard Monteil bei Anlaß seiner
großen Ausstellung von 1867. (Riat. S. 256).
Die Biographen von Paul Cözanne sehen sein Lebenswerk in drei Abschnitten: von
seiner Ankunft aus Aix-en-Provence in Paris 1861 bis zur Bekanntmachung mit dem Im-
pressionismus 1873 durch Pissarro, von dieser Zeit bis zu seiner Rückkehr nach Aix 1879,
und die Zeit seiner Arbeit in Aix in Einsamkeit und Stille bis zu seinem Tod 1906. Oder,
wie Lionello Venturi in seinem zweibändigen Cezanne-Katalog von 1936, in vieren:
1865—1871 Periode academique et romantique, 1872—1877 Periode impressioniste et com-
mencement de la periode constructive, 1878— 1887 Periode constructive, 1888—1906 Periode
synthetique. Die für das Kunsthaus neu erworbene «Montagne Sainte-Victoire» steht unter
den von Venturi klassierten 805 Gemälden als Nummer 801, «1904—1906» (unsere Tafel XI),
an fünftletzter Stelle und könnte als nicht ganz vollendet auch an allerletzter stehen.
Um die Mitte der 1860er Jahre soll C&zanne, wohl unter dem Eindruck von dessen großer
Ausstellung, Courbet bewundert haben. Wenn Cezanne in der Zurückgezogenheit von Aix
32 Estaque-Landschaften und 35mal den grünen Jas de Bouffan malt, so muß er nicht das
Bekenntnis von Courbet zur Heimat gekannt und mit Wissen auch zum seinigen gemacht
haben, als Maler seiner südfranzösischen Motive bestätigt er aber an seinem Ort die im
Wort von Courbet steckende Wahrheit. Der Montagne Sainte-Victoire, dem heimatlichen
Berg, widmet in dreieinhalb Jahrzehnten Cezanne 29 Bilder. Zum erstenmal erscheint
die abgestumpfte Pyramide im Hintergrund des Bahndurchstichs von 1867/70. Dann, 1882/85,
erhebt er sich noch einmal wie ein erloschener Vulkan über ein kahles Vorgelände, und bald
sehen wir ihn fünfmal abgewandelt zwischen Bäumen über einer Ebene mit Feldern, Wegen,
Häusern und einem vielbogigen Viadukt. Im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts wechselt
von einem Mal zum andern die Form des Gipfels und heben sich die Flanken, der Berg
beginnt zu erwachen, er wird lebendig; rückt weit nach vorn und gleitet wieder zurück.
In den sieben letzten Bildern, die in die Jahre 1904 bis 1906 verlegt werden, sind Form
und Farbe entfesselt. Der Berg, in Umriß und Masse noch einmal verschoben, wird zur
tief gelagerten Sphinx mit vorgestreckten Tatzen, das Vorgelände und der Himmel ant-
worten einander als stark bewegte Räume.
Fünf dieser allerletzten Bilder sind im Original und auch nur in farbigen Reproduk-
tionen heute nicht erreichbar. Die Reproduktionen in Schwarz-Weiß verhehlen, was das
Wesen dieser im tiefsten aus der Farbe und durch die Farbe lebenden Malerei ist. Doch
befindet sich ein dem Bild des Kunsthauses nah verwandtes, Venturi Nr. 802 (unsere Tafel
XIIa), das ruhigste aus der Siebenerfolge, in einer zürcherischen Privatsammlung. Die
Kunstfreunde haben wiederholt und für längere Zeit im Kunsthaus die beiden Werke
neben einander betrachten und vergleichen können. Sich für das eine oder das andere
endgültig zu entscheiden, ist allen schwer gefallen. Venturi 802 ist durchgemalt und