Jahresbericht 1947 der Zürcher Kunstgesellschaft
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als das Erregende und Entscheidende nicht den Berg und nicht den Seespiegel, sondern
die kühne Linie und die milde Bläue. Warum soll nun nicht ein Maler versuchen, die
Kühnheit der Linie ohne den Berggrat, schließlich sogar Kühnheit als solche nicht nur
gerade in dieser, sondern auch in einer andern, in unendlich vielen andern Linien, sichtbar
und für das Gemüt lebendig zu machen? und die milde Bläue des Seespiegels auch ohne die-
sen. Milde schließlich auch ohne gerade diese Bläue?
Ein solcher Maler läßt weg, verzichtet, «abstrahiert» von Bestandteilen des außer ihm
und ohne ihn vorhandenen Naturbildes, oder sucht gar ganz aus sich, ganz unabhängig von
einem Außenbild, Stimmungen, Zustände, Spannungen mit möglichst von ihm selbst und
allein gewählten, nicht mehr aus einer Umwelt abstrahierten Formteilen im «Bild» zu
Sichtbarem zu gestalten, sinnlich faßbar, «konkret» zu machen. Daß die Ergebnisse der-
artigen «abstrahierenden» oder «konkretisierenden» Vorgehens gleich als «abstrakte Kunst»
und «konkrete Kunst» präsentiert werden, ist so gewagt wie ungenau. Es gehört zum Jam-
mer der Menschheit, daß für derartige Worte, die Begriffe eindeutig kleiden sollten, die
Uebereinkunft über ihren Sinn unter den Menschen von Ort zu Ort, und in der Zeit sich
wandelt und sie deshalb stets nur in Anführungszeichen gebraucht werden dürfen.
Wenn heute ein einzelnes «Bild» von Kandinsky, in andersartige, wenn man sagen darf,
eingeschlafene Umgebung versprengt, befremdend und unverständlich wirken muß, so
atmet sein Gesamtwerk mit seiner fortschreitenden folgerichtigen Entfaltung und Enthül-
lung in einer beruhigend wohltuenden Atmosphäre von Klarheit und künstlerischer Ver-
nunft. Kandinsky hat der großstädtischen Jugend unseres Jahrhunderts den Weg von der
naturalistischen Malerei über die «abstrakte» zur «konkreten» vorgelebt.
Seit 1910 nennt er seine «Bilder»: Komposition, Improvisation, Kleine Freuden, Zweier-
lei Rot, Weißes Zentrum, Stille Harmonie, Schwarze Form, Fröhlich, Doppelter Aufstieg,
Festes, Stilles, Schweben, Ruhe, Verschleiertes Glühen, Zickzack in die Höhe, Winkel-
schwung, Zu - Grün, Mit und Gegen, Dichtes Braun, Kreis und Fleck, Durchgehend, Mitte-
Blau, Friedlich, Herunter, Pfeil zum Kreis, Freudig-hell, Verhalten, Gegliedert, Ausschnitt;
und immer wieder nur «Komposition> und nur «Aquarell».
Das für das Kunsthaus neu erworbene Bild von Kandinsky heißt «Schwarzer
Fleck», nicht, wie die Unterschrift unter TafelII sagt: Der schwarze Fleck.
Das erste, was man auf der Leinwand sieht, ist wirklich, umrahmt von schmutzig-roten
Protuberanzen, ein etwa birnenförmiger großer schwarzer Fleck. Man könnte an den
schwarzen Fleck denken, der auf der Wartburg von Luthers Tintenfaßwurf nach dem
Teufel an der Wand geblieben ist. Es finden sich, vornehmlich im obern Teil der Lein-
wand, noch andere Schwärzen, in Form von Flecken, Streifen, Kringeln, Gittern, und
andere Flecken als nur schwarze: grüne, blaue, gelbe, rosenfarbene; und weitere Streifen
in Grau, Violett, Braun, Rosa, Gelb. Dies alles tritt in Beziehung zu einander. Die Streifen
and Striche zeigen mit Heftigkeit Richtungen, die runden Flecken steigen und sinken
schwerelos und still, wie die farbigen Kugeln im geschlossenen Auge, das sich vorher dem
grellen Licht geöffnet hat. Das scheint sich zu ereignen in einem leeren Raum, auf weißer
Leinwand, doch auch der weiße Grund erwacht in leichten Schwingungen von bläulich,
gelblich, rosa, grünlich, lila. Das Bild wird farbig und licht.