Volltext: Jahresbericht 1955 (1955)

Im 18. Jahrhundert gewannen die Venezianer Canaletto und 
Guardi dem Vorwurf die berückendsten Gestaltungen ab, bildete 
doch wie für Holland so auch für die neptunische Stadt das 
Meer Lebenselement und Daseinsgrund. Sonst aber vermochte 
das Rokoko der See, aus naheliegenden Ursachen, keine Vorliebe 
entgegenzubringen. Erst der Romantik öffnet sich das Auge wie- 
der für das Meer, freilich in ganz neuer Weise: sie fand in ihm 
ein Schlüsselmotiv, um elementare Gefühle, Unendlichkeits- 
pathos, Sehnsucht und Einsamkeit sichtbar zu machen. Für all das 
steht beispielhaft die Malerei Caspar David Friedrichs. Sein Bild 
«Die gescheiterte Hoffnung» erweist sich als hintergründige 
Allegorie, als gemalte Metaphysik: ein Schiff, von Eismassen er- 
drückt und der Totenstarre der Eiswelt überantwortet, ist Gleich- 
nis für die Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen, seine 
Fremdlingschaft in der irdischen Sphäre. Das Meer erscheint sei- 
nem ursprünglichen Wesen entfremdet; es übernimmt die Quali- 
tät einer Chiffre für ein transzendentales Ereignis. 
Demgegenüber bleibt die französische Romantik ständig auf 
dem Boden unmittelbarer Augensinnlichkeit. Am überwältigend- 
sten hat sich ihr Erlebnis des Meeres in zwei Werken nieder- 
geschlagen: in Gericaults «Floß der Medusay» und in Delacroix’ 
«Dantebarke». Hier wie dort kommt es zur Darstellung einer im 
wörtlichsten Sinn unheimlichen Welt, geht es doch um die Erfah- 
rung eines Menschseins, das kein Anrecht besitzt auf selbstver- 
ständliche Einordnung in gastliche Natur: diese enthüllt sich als 
elementare, alles Menschliche bedrohende Macht — Katastrophen 
ungeheuerlichen Ausmaßes triumphieren. Stärker noch als Dela- 
croix, der mit der «Barke des Don Juan» und dem «Sturm auf 
dem See Genezarethy eine der «Dantebarke» verwandte The- 
matik verfolgt, kreist die künstlerische Phantasie Gericaults zeit- 
lebens um Sintflutszenen, und «le naufrag&» bildet so etwas wie 
ein Grundmotiv dieser Kunst. 
Auch im Schaffen Courbets beansprucht das Meer einen wich- 
tigen Platz — allein im Jahre 1865 sollen gegen vierzig Seebilder 
entstanden sein. Indessen handelt es sich jetzt nicht mehr um das
	        
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