Volltext: Jahresbericht 1955 (1955)

Meer als Schauplatz reich befrachteter menschlicher Tragödien, 
als Ort großer, erhabener Historie: das zunächst noch vorhandene 
figürliche Beiwerk (1868 zum Beispiel «femme ä la vague») ver- 
schwindet, und schließlich kommt es zur Apotheose der Woge als 
eines Inbegriffs urtümlicher Naturkraft. 
In den Bildern Monets und der Impressionisten überhaupt 
tritt der elementare, «geschöpfliche» Aspekt völlig zurück. Das 
Meer erscheint hier als rein optisches Phänomen, als besonders 
günstiger Anlaß, die vielfältigsten schillernden Netzhautsensatio- 
nen zu spiegeln, als «farbiger Abglanz ozeanischen Lebens», 
nachdem schon Turners leuchtende Visionen, bei aller traumhaft 
schwebenden Irrealität, so oft den bloßen Augenschein duftiger 
Farbschleier aus dunstiger Atmosphäre wahrgenommen hatten. 
Vollends Seurat und Signac unterwerfen auch die See der rech- 
nend abstrahierenden Behandlung ihres nach dem Gesetz streben- 
den programmatischen Pointillismus. — Um auf Manets «Evasion 
de Rochefort» zurückzukommen: sie steht in der Mitte zwischen 
der Auffassung Gericaults, Delacroix’ und Courbets einerseits, 
derjenigen der Impressionisten anderseits. 
Die Spuren von Dramatik, von tragischem Lebensgefühl sind 
weitgehend getilgt. Dieser Umstand äußert sich vor allem darin, 
daß die Menschen im Boot keinen unverwechselbaren Persönlich- 
keitswert — die unerläßliche Bedingung von so etwas wie Tra- 
gik — mehr besitzen. Ihnen ist, in einem wörtlichen Sinn, das 
Gesicht genommen; lediglich die Züge Rocheforts gelangen zu 
beiläufig genauer, aber durchaus maskenhaft starrer Vergegen- 
wärtigung, während die Physiognomien seiner Gefährten im 
unbestimmt Amorphen, skizzistisch Aufgelösten verharren, und 
das erst recht in der endgültigen Fassung. Dieses Boot trägt nicht 
eigentlich schicksalsbeladene Individuen, und desgleichen verlor 
diese weite Wasserfläche, wiewohl sie sich gegen den Horizont 
hin zusehends verdüstert, die besonderen Qualitäten einer tosen- 
den und wilden Urgewalt. Die Substanz der Wellen, der Wogen 
scheint sich zu verflüchtigen; das Grundprinzip der Malerei 
Manets tritt zutage: das Dargestellte erleidet eine radikale Reduk- 
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