Volltext: Jahresbericht 1959 (1959)

spiels, in einen musikalischen Wettstreit zu treten. Die erregen- 
den, schrillen Töne seiner Flöte aber kamen bei weitem nicht an 
die wohllautenden Klänge der apollinischen Kithara heran, und 
so wurde Marsyas durch den Richterspruch der Musen als ein 
Frevler an der Gottheit verurteilt. Zur Strafe wurde er auf- 
gehängt und von einem skythischen Sklaven lebendigen Leibes 
geschunden. 
Griechische Kunst erschöpfte sich nicht, wie auch heute 
noch häufig geglaubt wird, in Gestalten kühler, vollendeter 
Schönheit, die weitab von unserer menschlichen Welt in 
göttergleicher Ferne ihr stilles Wesen feiern. Sondern die 
Größe der griechischen Kunst besteht nicht zum wenigsten 
darin, daß sie alle Bereiche des Lebens umfaßte, hohe und 
niedere, vom Glück getragene und in Schmach versenkte. So 
finden wir zu allen Zeiten des griechischen Kunstschaffens 
neben Bildern blühender Lebenskraft und höchsten Adels 
Darstellungen von Mord und Tod, brutaler Gewalt und Grau- 
samkeit. Hier hacken die Todesdämonen des Schlachtfeldes an 
den Leichen der Gefallenen, dort strömt das Blut aus der 
Wunde der geopferten Polyxena, hier krümmt sich Aegisth 
unter dem rächenden Schwert, das seinen Leib durchbohrt, da 
wirft der rasende Herakles sein eigenes Kind in die Flam- 
men. Natürlich war die Beliebtheit solcher Motive nicht die- 
selbe in allen Epochen, und die Darstellungsart änderte sich 
mit der Entwicklung der Kunst. Archaische und klassische 
Künstler pflegten den Vorgang mit aller Deutlichkeit wieder- 
zugeben, so daß der Betrachter unmittelbar Zeuge der zucken- 
den Leiber, der brechenden Augen, des fließenden Blutes 
wurde. Selbst das klassische fünfte Jahrhundert, das auf dem 
Gebiete des Dramas doch so meisterhaft verstand, die Greuel 
der Freveltaten dem Blick der Zuschauer zu entziehen, 
machte hierin keine Ausnahme. Das Mitgefühl des Betrach- 
ters wurde durch das Schrecknis selbst erregt, oder es mußte 
sich völlig an der eigenen Phantasie entzünden, wie bei den 
unzähligen Kampfbildern, die das Geschehen nur durch Hal- 
„
	        
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