Pisanello erweckt dann die Welt des Kreatürlichen zu atmen-
dem Leben; er befreit sie aus den Fesseln des mittelalterlichen
Exempel- und Zeichendenkens. Bereits die Zeitgenossen haben
das empfunden; in einem lateinischen Gedicht des Veronesen
Guarino heißt es um 1438:5 «. . . bei dir bin ich versucht, dem
arbeitenden Pferd den Schweiß von der Stirn zu wischen, und
glaube das Wiehern des Streitrosses zu hören... Wenn du
ein Nachtstück malst, läßt du die Nachtvögel kreisen und
keinen Tagvogel sich zeigen.» Diese von Anschauung gesät-
tigte Vergegenwärtigung eignet auch dem Falken, und der
Sachverhalt, im Verein mit dem Umstand, daß gerade das
Motiv des Falken verschiedentlich auf lombardischen Minia-
turen und Zeichnungen erscheint, unter einem Blickwinkel,
in dem sich heraldische Stilisierung und erlebtes Naturgefühl
verschwistern, gibt den Anstoß, das Werk in den oberitalieni-
schen Bereich und in die Zeit um 1440 zu lokalisieren.®
Auch die Frage nach der «praktischen» Funktion des
Werkes wie nach seinem ikonographischen Sinn bietet
Schwierigkeiten. Liegt insofern ein «Gerät» vor, als die Skulp-
tur als Ständer für Falkenhauben diente? Eignete dem Werk
ein allegorischer, emblematischer Sinn? Darauf könnte der
befremdliche Vorwurf hindeuten, daß der Falke auf einer
Schildkröte steht. Aber keine der gebräuchlichen allegorischen
Vorstellungen, die sich mit der Schildkröte verbinden”, lassen
sich hier anwenden. Jenseits der künstlerisch unmittelbar sich
aussprechenden, sich erschließenden anschaulichen Gestalt
bleiben dergestalt manche Fragen offen. Sie sollten hier ledig-
> Zit. bei: Bernhard Degenhart, Antonio Pisanello, Wien 1940, S. 6; vgl. ferner
H. Keller, a. a. O., S. 220.
Vgl. unter den Zeichnungen und Medaillen Pisanellos vor allem die bei Degen-
hart, a. a. O., reproduzierten: Abb. 70 (Adler, Pinselzeichnung); Abb. 86
(Reiherstudien, Federzeichnungen); Abb. 93 (Adler und Blumenstudien, Silber-
stiftzeichnung); Abb. 116 (Falken, Entwürfe zur Medaille König Alfons’ von
Neapel); 114 Medaille Alfons’ von Neapel).
Vgl. Guy de Tervarent, Attributs et symboles dans l’art profane 1450—1600,
II, Geneve 1959, S. 383. Auf einer Silberstiftzeichnung des Louvre von Pisa-
nello erscheinen neben den Studien eines Ziegenbocks und von zehn Schnecken
auch die Studien zweier Schildkröten (vgl. Degenhart. a. a. 0., Abb. 87).
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