Full text: Jahresbericht 1961 (1961)

Pisanello erweckt dann die Welt des Kreatürlichen zu atmen- 
dem Leben; er befreit sie aus den Fesseln des mittelalterlichen 
Exempel- und Zeichendenkens. Bereits die Zeitgenossen haben 
das empfunden; in einem lateinischen Gedicht des Veronesen 
Guarino heißt es um 1438:5 «. . . bei dir bin ich versucht, dem 
arbeitenden Pferd den Schweiß von der Stirn zu wischen, und 
glaube das Wiehern des Streitrosses zu hören... Wenn du 
ein Nachtstück malst, läßt du die Nachtvögel kreisen und 
keinen Tagvogel sich zeigen.» Diese von Anschauung gesät- 
tigte Vergegenwärtigung eignet auch dem Falken, und der 
Sachverhalt, im Verein mit dem Umstand, daß gerade das 
Motiv des Falken verschiedentlich auf lombardischen Minia- 
turen und Zeichnungen erscheint, unter einem Blickwinkel, 
in dem sich heraldische Stilisierung und erlebtes Naturgefühl 
verschwistern, gibt den Anstoß, das Werk in den oberitalieni- 
schen Bereich und in die Zeit um 1440 zu lokalisieren.® 
Auch die Frage nach der «praktischen» Funktion des 
Werkes wie nach seinem ikonographischen Sinn bietet 
Schwierigkeiten. Liegt insofern ein «Gerät» vor, als die Skulp- 
tur als Ständer für Falkenhauben diente? Eignete dem Werk 
ein allegorischer, emblematischer Sinn? Darauf könnte der 
befremdliche Vorwurf hindeuten, daß der Falke auf einer 
Schildkröte steht. Aber keine der gebräuchlichen allegorischen 
Vorstellungen, die sich mit der Schildkröte verbinden”, lassen 
sich hier anwenden. Jenseits der künstlerisch unmittelbar sich 
aussprechenden, sich erschließenden anschaulichen Gestalt 
bleiben dergestalt manche Fragen offen. Sie sollten hier ledig- 
> Zit. bei: Bernhard Degenhart, Antonio Pisanello, Wien 1940, S. 6; vgl. ferner 
H. Keller, a. a. O., S. 220. 
Vgl. unter den Zeichnungen und Medaillen Pisanellos vor allem die bei Degen- 
hart, a. a. O., reproduzierten: Abb. 70 (Adler, Pinselzeichnung); Abb. 86 
(Reiherstudien, Federzeichnungen); Abb. 93 (Adler und Blumenstudien, Silber- 
stiftzeichnung); Abb. 116 (Falken, Entwürfe zur Medaille König Alfons’ von 
Neapel); 114 Medaille Alfons’ von Neapel). 
Vgl. Guy de Tervarent, Attributs et symboles dans l’art profane 1450—1600, 
II, Geneve 1959, S. 383. Auf einer Silberstiftzeichnung des Louvre von Pisa- 
nello erscheinen neben den Studien eines Ziegenbocks und von zehn Schnecken 
auch die Studien zweier Schildkröten (vgl. Degenhart. a. a. 0., Abb. 87). 
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