Volltext: Jahresbericht 1963 (1963)

Magdalena»; aber der Anklang ist sehr vage; auch jetzt han- 
delt es sich um die Ausprägung einer generell menschlichen, 
expressiven Gebärde, des Flehens, des Betens, der Buße an 
sich. Die geradezu mystische Ausdrucksintensität der Figur 
beruht in der Strenge des Aufbaus: der hagere, ausgemergelte 
Körper ist, bei aller ungemein zarten Modellierung im einzel- 
nen, einem straffen, steil aufragenden Formgefüge überant- 
wortet. In den spitz gewinkelten, aufgestützten Armen, den 
flehend vor der Brust gefalteten Händen setzt ein Vertikal- 
drang an, der die Komposition bestimmt. Er vollendet sich im 
hochgereckten Haupt und dem röhrenartigen, dunkel schatten- 
den Kopftuch, das als mächtige durchgehende Bahn von der 
Rückenbasis der Halbfigur her unaufhaltsam emporsteigt. 
Diese Architektonisierung des Körpers zur reinen Ausdrucks- 
gebärde findet sich als verbreitetes europäisches Stilphänomen 
der Zeit; eine seiner Komponenten, die gefühlshaft-«pseudo- 
gotische», geht, mit Minne, auf den Jugendstil zurück. In Paris 
hat Lehmbruck die neue Formensprache in persönlichem 
Kontakt mit Brancusi, Matisse, Derain und vor allem Modi- 
gliani kennengelernt.‘ Die «Betende» zeigt die «gotische», 
«strebepfeilerähnliche» Aufgliederung der körperlichen Masse 
im Sinne linearer Verfestigung auf einem Höhepunkt — es ist, 
als wollte Lehmbruck, da ihm keine wirkliche Architektur als 
Halt und Behausung für seine Skulpturen zur Verfügung 
stand, seinen Skulpturen selber architektonisches Gepräge ver- 
leihen, indem er die Arbeit des Architekten mitleistete.” Die 
Druchdringung von abstrakter Struktur und organisch-plasti- 
scher Struktur, die Interpretation des menschlichen Körpers 
als konstruktives plastisches Gebilde und als Darstellung 
natürlicher Erscheinung, als Einheit aus tektonischen, plasti- 
schen und linearen Werten. schenkt auch der «Betenden» den 
i Vgl. dazu Eduard Trier, Wilhelm Lehmbruck, Paris 1910—1914, in: Jahres- 
ring 55/56, Stuttgart 1955, S. 144—153. 
5 Vgl. Herbert von Einem, Zum Werk Wilhelm Lehmbrucks, in: Die Samm- 
lung II (1946/47), S. 38-—54. 
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